© Christian Berger

 

Wildnis ist Lebensgefahr und Sehnsuchtsort zugleich

Ist der Mensch im Grunde ein animalisches oder ein zivilisiertes Wesen, dessen Instinkte unterdrückt wurden? Bernadette Weigel spürt in ihrem Essay LAST OF THE WILD menschliche Lebensräume auf, wo Fragen der Grenzen und Verbindungen zur Natur neu gestellt werden.

 

Sie setzen sich in LAST OF THE WILD mit einer Frage auseinander, die so alt ist wie die Geschichte der menschlichen Zivilisation. Wie würden Sie diese Frage formulieren?

BERNADETTE WEIGEL: LAST OF THE WILD behandelt das Spannungsfeld zwischen Wildnis und Zivilisation, daraus ergibt sich die zentrale Frage, ob sich der spätmoderne Mensch noch als Teil der Natur definiert. Die Covid-Pandemie zeigt, wie relevant und akut es ist, sich mit der Rolle des Menschen im ökologischen Gefüge der Erde auseinanderzusetzen und dabei von der anthropozentrischen Perspektive abzurücken.

 

Gab es einen Moment, wo Sie befremdet einen Blick auf das eigene Leben/den eigenen Alltag in der Stadt geworfen haben, der den Anstoß für dieses Projekt geliefert hat?

BERNADETTE WEIGEL: LAST OF THE WILD hat sich aus einem anderen Projekt heraus entwickelt, in dem es um das Zusammenleben von Menschen mit Wildtieren – z.B. Löwen, Eisbären und Alligatoren – ging, um artübergreifende Kommunikation und das „Fluidum der Liebe“, wie es die berühmte Löwenbändigerin Tilly Bébé nannte. Und warum der Anblick von Tierdressur oder Zootieren zugleich Faszination und Unbehagen auslösen kann. Das gab den Anstoß, mich mit der Frage zu beschäftigen, wie hoch eigentlich der Preis ist, den wir Menschen für ein bequemes, sicheres und gezähmtes Dasein bezahlen.

 

Wie würden Sie dieses „Wilde“ in einer Zeit, in der wir, wie Sie selbst sagen „bis auf die Zähne zivilisiert“ sind, definieren?

BERNADETTE WEIGEL: Der Begriff Wildnis wird in LAST OF THE WILD bewusst weit gefasst und in seiner Bedeutungsvielfalt aufgefächert. Wildnis als die ursprüngliche Natur, eine vom Menschen unberührte und urwüchsige Biosphäre, in der wilde Tiere leben. Als „Wilde“ werden Völker betitelt, die in kleinen, nomadischen Gruppen leben und sich als Teil einer beseelten Natur empfinden. „Wilde“ sind aber auch zivilisierte Menschen, die sich dem gesellschaftlichen Regelwerk widersetzen. Archaische Anteile im modernen Menschen, wie z.B. das Irrationale, das Unbewusste, Träume und Triebe werden mit dem Wilden in Verbindung gebracht. Wildnis steht für das Animalische, das Unbeherrschte, Chaotische, Grenzüberschreitende, Unkontrollierbare und Instinkthafte, für ein System, in dem alle Lebewesen ganz basal miteinander verbunden sind. Wildnis ist Lebensgefahr und Sehnsuchtsort zugleich.

 

Sieben Jahre liegen zwischen Ihrem ersten Langfilm Fahrtwind; steckt eine lange Entstehungsgeschichte hinter Ihrem neuen Projekt LAST OF THE WILD?

BERNADETTE WEIGEL: Die lange Pause zwischen den Projekten ist ein schmerzhaftes Thema für mich! Um darauf wirklich eingehen zu können, bräuchte es ein eigenes Gespräch, in dem es um Themen ginge wie Geschlechtergleichstellung im Filmfördersystem, Budgetgerechtigkeit, um den Mangel an mutigen Produzent*innen in Österreich, das Stiefkind Kinodokumentarfilm und um die Frage, was Entscheidungsträger*innen eigentlich unter „innovativem Kino“ verstehen. In diesen sieben Jahren habe ich zwei andere Kinofilme mit Hilfe von Entwicklungsförderungen bis zum fertigen Drehbuch bzw. Drehkonzept erarbeitet. Das erste der Projekte, Elyson, wurde für einen „Erstlingsfilm“ als zu „teuer“ eingeschätzt und nach fast drei Jahren Arbeit und hohen Entwicklungskosten zu Grabe getragen, da eine Finanzierung in Österreich nicht möglich war. Das zweite Projekt Raubtiermädls ist durch die fruchtbare Zusammenarbeit mit der KGP Filmproduktion und Barbara Pichler zu LAST OF THE WILD herangewachsen. Drei weitere Projekte sind mehr oder weniger weit entwickelt und warten auf ihre Zeit.

 

Fahrtwind ebenso wie LAST OF THE WILD verbindet das Prinzip der Reise. Ist die eigene physische Bewegtheit so etwas wie die Grundierung/eine Notwendigkeit in Ihrem filmischen Erzählen?

BERNADETTE WEIGEL: Das Motiv der Reise als Parabel für Entwicklung/Veränderung durch Erfahrung und die Konfrontation mit dem Unbekannten findet sich ja schon in den ältesten Erzählformen, ist in der klassischen Filmdramaturgie und in der therapeutischen Praxis als „Heldenreise“ bekannt. Ein innerer Entwicklungsprozess wird durch eine äußere Bewegung nachvollziehbar und anschaulich gemacht. In der Summe der Projekte, die ich bisher entwickelt und entworfen habe, spielt das Motiv der Reise als Sujet eine untergeordnete Rolle. Es stellt allerdings eine nachvollziehbare Suchbewegung dar, die sich als Form für offene Diskurse zu komplexen Themen gut eignet. Als Grundierung meines filmischen Erzählens würden mir eher das Vorsprachliche, Sinnliche, Poetische und die Vieldeutigkeit, Atmosphären, Assoziationen, der filmische Dialog mit der Zuschauer*in, Erfahrung, Neugier und Ästhetik, Emotion, Spannung, Denken, Wahrnehmen und dramaturgische Komposition einfallen. Die eigene Physis, bewegt oder unbewegt, ist hierfür lediglich Voraussetzung.

 

Im Zentrum Ihres Films stehen vier Persönlichkeiten, die in ihrer Lebensweise die vielen Widersprüchlichkeiten, die Sie in der menschlichen Sehnsucht nach Sicherheit/Zivilisation und Verbindung mit der Natur aufgespürt haben, geradezu verkörpern. Von welchen Wünschen und Vorstellungen war Ihre Suche bestimmt? Können Sie diese vier Hauptfiguren kurz charakterisieren?

BERNADETTE WEIGEL: Alle Protagonist*innen balancieren an der Grenze zwischen dem Wilden und dem Beherrschten, was zu interessanten und konfliktreichen Lebensumständen führt. Bei der Suche nach den Protagonist*innen waren es dieser Umstand, aber auch die jeweiligen Persönlichkeiten, die mich geleitet haben und ich freue mich, dass alle zugestimmt haben, Teil von LAST OF THE WILD zu werden. Carmen Zander ist eine mit den höchsten Preisen ausgezeichnete Raubtiertrainerin, die am Stadtrand von Leipzig ein prekäres Familienleben mit sechs Tigern führt. Pavel Fomenko und seine Frau Yulia kämpfen in den Wäldern Südostsibiriens für das Überleben der letzten wilden Amur-Tiger. María José Cristerna hat sich durch Bodymanipulation in eine Jaguarkriegerin verwandelt und tritt mit ihrem Körper und ihrer Arbeit gegen die Gewalt an Frauen (in Mexiko) und das Verschwinden präkolonialer Kulturen ein. Nina Stepanova lebt in einer russischen Großstadt und ist traditionell praktizierende Schamanin.

 

Für drei Ihrer Protagonist*innen spielt der Tiger eine wesentliche Rolle. Welche Symbolik erhält der Tiger in Ihrem Film?

BERNADETTE WEIGEL: Der Tiger ist ein beliebtes und althergebrachtes Symbol für die Kraft und Anmut des Wilden und er ist vom Aussterben bedroht. Tigerbilder schmücken T-Shirts, Kaffeehäferl, Polsterüberzüge usw., stehen uns praktisch überall vor Augen. Aber bis auf den Bengaltiger sind alle anderen acht Subspezies des Panthera tigris in freier Wildbahn praktisch nicht mehr existent. Diese widersprüchliche Gleichzeitigkeit verdeutlicht den zentralen Konflikt von LAST OF THE WILD.

 

Drei der Protagonist*innen sind weiblich. Jede von Ihnen hat ihren Weg gefunden, sich mit dem Animalischen zu verbinden. Welche Rolle spielt dabei auch der Versuch einer weiblichen Selbstbehauptung?

BERNADETTE WEIGEL: Die Protagonist*innen wären wahrscheinlich auch mit einem Penis den gleichen Weg gegangen, allerdings mit weniger Hindernissen, was aber durch das Extreme ihrer Lebenskonzepte kaum noch ins Gewicht fällt. Das ist mehr eine Frage der Persönlichkeit, als des biologischen Geschlechts. Im Leben María Josés spielt feministische Selbstermächtigung tatsächlich eine wichtige Rolle, wobei da nicht von einem Versuch, sondern von einer radikalen Metamorphose die Rede sein muss. Sie hat sich ja in eine Kriegerin und Rächerin verwandelt und ihr Körper erinnert an die Muttergöttin in Gestalt der furchteinflößenden Verschlingerin, was von der zu Boden blickenden Jungfrau im blauen Mantel also völlig abweicht.

 

Dem Stoff von LAST OF THE WILD liegt eine komplexe intellektuelle Auseinandersetzung zugrunde. Mit den Dreharbeiten, so entsteht der Eindruck, begeben Sie sich aber auch in eine intensive physische Erfahrung. Ist es ein Wunsch, selbst verändert aus einer filmischen Arbeit hervorzugehen?

BERNADETTE WEIGEL: Filmemachen ist mein Beruf und kein Selbsterfahrungstrip, obwohl das gerade in diesem Beruf manchmal auf das Gleiche hinausläuft. Die Frage bezieht sich eher auf die Ich-Figur in LAST OF THE WILD, eine europäische Städterin, die aus dem Off agiert, beobachtet, Fragen stellt, sich auf die Suche macht, Menschen, Tieren und Orten begegnet und am Ende nach Hause zurückkehrt. Sie sehen schon: die klassische Held*innenreise. In der Struktur des Films ist diese Ich-Figur der verbindende rote Faden und die Stimme aus dem Off dient zur Verknüpfung der unterschiedlichen Elemente und Ebenen. Diese Ich-Figur weist einen subjektiven und fragmentarischen Blick auf ein unerschöpfliches Thema aus und steht den Zuschauer*innen als emotionale Identifikationsfläche zur Verfügung. Eine, dem Essayfilm entlehnte Ich-Figur, ermöglicht es philosophische und soziologische Konvolute in subjektive, sinnliche und ästhetische Erlebnisse zu übersetzen. Die Ich-Figur hat mit der privaten Filmemacherin, wie auch schon in Fahrtwind, ebenso viel gemein, wie ein Romancier mit seiner Ich-Erzählerin.

Als Filmemacherin sehe ich mich in erster Linie als Handwerkerin, die gemeinsam mit anderen Profis, einen künstlerisch und politisch relevanten Film für ein zahlendes Publikum herstellt. Da die Arbeit an einem Film viel Lebenszeit, intensive Begegnungen, körperliche Anstrengungen und aufregende Situationen beinhaltet, verändert und bereichert sie die Menschen, die diesen Prozess durchlaufen. Leben und Arbeit sind da nicht klar voneinander zu trennen. Mein Wunsch ist es, gemeinsam mit dem Team und den Protagonist*innen der Wildnis in uns und um uns auf die Spur zu kommen und die Zuschauer*innen in die Sache mit hineinzuziehen.

 

Stößt ein technologisch ausgereiftes Gerät wie eine Filmkamera auch auf Grenzen in Ihrem Wunsch dem „Wilden“, dem Unkontrollierbaren auf den Grund zu gehen. Bewegen Sie sich in einer Schnittfläche zwischen bildlichem und literarischem/sprachlichem Erzählen?

BERNADETTE WEIGEL: Die Kamera selbst ist nur ein Werkzeug, das von einem denkenden, fühlenden und wahrnehmenden Körper, in diesem Fall der Kamerafrau Siri Klug, bedient wird. Die Membran ist also nicht das Gerät, sondern der Mensch, der es handhabt und bewegt. Siri arbeitet viel mit Schulterkamera, sodass sich ihre Bewegungen und Impulse, ihr Schauen, Beobachten und ihre Reaktionen organisch auf das Bild übertragen. Der Körper ist ja ein ganz wichtiges Motiv in LAST OF THE WILD und daher arbeiten wir sowohl vor als auch hinter der Kamera betont mit Körperlichkeit. Die erwähnte Ich-Figur ermöglicht es literarische bzw. poetische Elemente in die „Erzählung“ einzubeziehen, die vorwiegend aus Beobachtungen sinnlicher Unmittelbarkeit von Körpern bestehen wird. Wie stark der verbale Aspekt sein wird, ist noch offen, da ich eigentlich an filmsprachlichem Erzählen, einer Grammatik aus Bildern, Tönen und Montage interessiert bin. Da der spätmoderne Mensch die Welt vorwiegend durch Rationalisierung und Versprachlichung erfährt, erscheint es mir für das Thema des Films relevant, das Sprachliche auch in der Form des Films zu reflektieren.

 

In welcher Abfolge planen Sie, die Orte Ihrer Protagonist*innen zu bereisen? Wie groß wird Ihr Team sein?

BERNADETTE WEIGEL: Bereits gedreht wurde mit Carmen Zander in Leipzig. Ursprünglich wollten wir chronologisch drehen, um die Kapitel präziser aufeinander aufbauen zu können. Also nach Carmen Zander, in die sibirische Region Primorje zu Pavel und Yulia Fomenko, danach zu María José Cristerna nach Mexiko und abschließend nach Ulan Ude zu Nadja Stepanova reisen. In der momentanen Situation ist die Frage jedoch nicht zu beantworten, wann und in welcher Abfolge wir tatsächlich reisen und drehen werden können.  Kamerafrau Siri Klug, Tonmeister/Sounddesigner Atanas Tcholakov und (Kamera)Assistentin Sophia Wiegele werden beim Dreh dabei sein und bilden gemeinsam mit Produzentin Barbara Pichler, Editorin Alexandra Schneider, Sounddesigner Max Liebich, Komponistin Astrid Schwarz und dem besten Colour-Grader, Kurt Hennrich, das Team, das den Film gestaltet.

 

Interview: Karin Schiefer

Jänner 2021