© Hans-Günter Bücking

 

Ein wirkliches Ensemblespiel.

Drei Mitarbeiterinnen einer Gefängniskantine geraten in die Gewalt dreier Häftlinge, die entschlossen sind, ihre Freiheit um jeden Preis zu erzwingen. Für die drei Frauen ein Albtraum, der erst nach acht Stunden zu Ende geht. Inspiriert von einer wahren Begebenheit, die sich in einem Grazer Gefängnis in den neunziger Jahren zugetragen hat, wagten Marion Mitterhammer und ihr Ehemann Hans-Günther Bücking ihr erstes Filmprojekt TAKTIK, das vom Drehbuch über Regie und Produktion ihre gemeinsame Signatur trägt.

 

Sie blicken auf eine lange Karriere als Schauspielerin in Film und Fernsehen zurück. Mit TAKTIK haben Sie Ihren ersten großen Spielfilm als Autorin, Regisseurin und Produzentin in Zusammenarbeit mit Hans-Günther Bücking realisiert. Was hat sie gereizt, einem Film mehr als eine Figur, nämlich auch eine Handschrift zu geben?

MARION MITTERHAMMER: Ganz klar, meine Ehe mit Hans-Günther Bücking. Hans’ filmische Wurzeln liegen bei Rainer Werner Fassbinder. Als wir uns kennengelernt haben, ist mir schnell aufgefallen, dass er einen völlig anderen Zugang zum Drehen hat als viele Regisseure, mit denen ich bis dahin zu tun hatte. Er hat die Fähigkeit eine Geschichte sehr, sehr schnell in ihrem Wesen zu erfassen und aus manchmal sehr wenig Material das Beste zu machen, was angesichts unseres Budgets nicht so unwichtig war (lacht) … sein Ruf als Enfant terrible hat mich gereizt, sein Elan und sein Esprit haben mich extrem motiviert, neue Wege zu gehen. Also stand für mich schnell fest – sollte ich mich je an ein Filmprojekt heranwagen, dann nur mit diesem wirklich leidenschaftlichen Filmmenschen. Als Kameramann und Regisseur hat er ein Filmverständnis, das mich fasziniert. Bei ihm schwingt immer Rock’n’Roll durch eingefahrene Muster. Sein Grundsatz „Geht nicht, gibt’s nicht“ nahm mir die Angst, neue Wege zu versuchen. Ich zähle mich eigentlich zu den eher mutigen Menschen, dennoch bin ich immer noch überrascht, dass es mir wirklich gelungen ist, Gelder aufzustellen, Mitstreiter zu gewinnen und diesen Film tatsächlich zu realisieren. Ich schätze mich sehr glücklich, dass es uns in der Steiermark und in Graz im Besonderen, leicht gemacht wurde, diesen „steirischen Stoff“ umzusetzen. Besonders schön finde ich nach wie vor, dass bei allen Mitwirkenden ein einfacher Anruf genügt hat, alle waren sofort mit an Bord.

 

Wie sehr beruht die Geschichte, die in TAKTIK erzählt wird, auf einer wahren Begebenheit?

MARION MITTERHAMMER: TAKTIK basiert auf einer wahren Begebenheit, erhebt aber nicht den Anspruch, das tatsächlich Geschehene exakt abzubilden. Bei einer Veranstaltung in Graz haben wir von diesem Ereignis erfahren; die Person, die uns davon erzählt hat, war der Verhandler, der damals im Gefängnis die Gespräche mit den Geiselnehmern geführt hat. Drei Schwerverbrecher haben im Gefängnis Bomben gebastelt und drei Frauen für acht Stunden in ihre Gewalt gebracht. Die Telefongespräche dieses Polizisten mit dem Drahtzieher der Aktion sind später in die Polizeigeschichte eingegangen. Diesen Gesprächsverlauf hat uns der Verhandler aus seinem Gedächtnis wiedergegeben. Abgesehen davon, dass diese Gespräche zum Teil sehr absurd und unfassbar sind, haben mich besonders die Frauen interessiert, die acht Stunden in Todesangst als Geiseln festgehalten wurden. Wie erzählt man das? Wie spielt man das? Fragen über Fragen, um diesem hochsensiblen Thema nahekommen zu können.

 

Die Herausforderung war also, etwas, das tatsächlich passiert ist, glaubhaft zu phantasieren und in dramaturgischer Hinsicht mit einem starken Fokus auf den Dialogen, ohne viele Nebenhandlungen zu erzählen. Wie ist das Drehbuch entstanden?

MARION MITTERHAMMER: Das Gedächtnisprotokoll des Verhandlers haben wir immer und immer wieder laut gelesen und schnell festgestellt dass diese Gespräche auch ziemlich absurd und perfide sind und einer bestimmten Dramaturgie unterliegen. Die beiden Männer, der Verhandler und der Geiselnehmer, liefern sich ein Katz- und Maus-Spiel. Der eine, ein eher einfach gestrickter Polizist und der andere, ein hochintellektueller, wortgewandter Schwerverbrecher, der nichts mehr zu verlieren hat. Interessant finde ich auch den Aspekt, dass in diesem Fall ja wirklich jeder gegen jeden zu agieren scheint. Der Verhandler z. B. wird anfangs weder von der Vorgesetzten noch von seinen Mitarbeiter*innen besonders geschätzt. Es ist auch für ihn der absolute Albtraum, er war ja auch kein professioneller Verhandler zu diesem Zeitpunkt, mit bloßem Instinkt versuchte er sein Bestes. Wenn er zu einer Kollegin sagt: „Schon einmal Columbo geschaut?“, dann könnte das vielleicht so gewesen sein. Alle warten auf den „Spezialisten aus Wien“, der aber in unserer Interpretation völlig versagt.

 

Alle streifen am Dilettantismus und verleihen dabei dem Ganzen auch etwas Komisches.

MARION MITTERHAMMER: Durch die Geschichte zieht sich etwas Absurdes, Bizarres, Seltsames, Gefährliches und Brutales. Die Frage war, wie zeigen wir das? Wie können wir diese Situation erfassen, um diese Männerwelt vorzuführen. Die Geiselnehmer sind Schwerverbrecher, der Anführer hat jahrelange Einzelhaft hinter sich. Im Gefängnis hatte er Zeit sich zu bilden, er ist hochgradig narzisstisch und eloquent. Der Verhandler hingegen ist ein instinktiver Bauchmensch – gegensätzlicher könnten die Kontrahenten nicht sein. Dadurch entstehen auch komische Momente; manchmal möchte man lachen, es bleibt einem aber im Halse stecken angesichts der Gefährlichkeit der Lage.

 

Der Film hat zwei zentrale Schauplätze – das Büro des Verhandlers und die Kantine, wo die Geiselnahme stattfindet. Im Hin und Her zwischen diesen beiden Protagonisten wird es zum Kammerspiel. Das dramaturgische Potenzial liegt im Dialog und hängt damit an den Schauspielern. Wie haben Sie miteinander diesen Film erarbeitet?

MARION MITTERHAMMER: TAKTIK ist ganz klar ein Schauspielerfilm. Für Schauspieler*innen stellt das eine interessante Herausforderung dar. Ich habe mich sehr gefreut, dass meine Kolleg*innen alle sofort zugesagt haben. Unser Cast mit Harald Krassnitzer, der selten den Bad Guy spielt, als Anführer, Simon Hatzl, dem Verhandler, Michael Thomas und dem Newcomer Anoushiravan Mohseni als die beiden weiteren Geiselnehmer sowie Michou Friesz und Bojana Golenac als Geiseln in der Kantine, das sind alles Vollblutschauspieler*innen, mit denen ich seit vielen Jahren eng verbunden bin. Wir haben ein ähnliches Berufsverständnis. Es war eine ausgesprochen schöne intensive und hochkonzentrierte Zusammenarbeit. Ein wirkliches Ensemblespiel.

 

Wie haben Sie in Ihrer Doppelrolle als Regisseurin und Schauspielerin Ihre eigene Arbeit gestaltet?

MARION MITTERHAMMER: Ich war sehr stark in der Vorbereitung des Projekts bis zum Dreh und dann in der Postproduktion engagiert. Es war klar, dass am Set Hans das Sagen hat. Es ist für mich nicht vorstellbar zu spielen und gleichzeitig alles im Blick zu haben. Ich habe mich am Set nur auf mein Spielen konzentriert.

 

Sie spielen im Film Frau Pichler, eine der drei weiblichen Geiseln. Wie geht man beim Schreiben des Drehbuchs mit dem Wissen um, dass man eine der Figuren auch verkörpern wird. Was hat Sie an ihr besonders bewegt?

MARION MITTERHAMMER: Ich spreche nicht so gerne aus dem Nähkästchen, was meine Arbeit als Schauspielerin betrifft. Ich finde, das ist ein sehr persönlicher Vorgang, der sehr schwer zu vermitteln ist. Es klingt immer irgendwie banal, obwohl es das nicht ist. Was ich aber sagen kann ist, dass mein Körper extrem reagiert hat auf diese entsetzliche Situation … Mir war ständig übel und meine Haut spielte verrückt. Ich kann meine Arbeit schwer von der meiner beiden Kolleginnen trennen. Wir waren gemeinsam mit unseren männlichen Kollegen sehr eng zusammengeschweißt und haben uns jeden Morgen versichert, aufeinander gut aufzupassen. Unsere große Erfahrung hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass wir die nötige Distanz beibehalten konnten. Um die Figur der Frau Pichler zu schreiben und dann zu spielen, habe ich keine Recherchen angestellt. Es ist eine Frage des Respekts. Ich bin nicht so vermessen zu glauben, dass ich eine Ahnung haben könnte von dem, was Opfer durchleben müssen, aber ich habe Phantasie und ich beobachte ständig. Trotzdem stellte ich mir immer wieder die Frage, wie stellt man diesen Albtraum, dieses Unfassbare, dar? In meinem Fall war es auch hilfreich, dass ich mich optisch sehr stark verändern konnte. Ich spiele ja sehr oft glamouröse oder sehr dominante Frauen. Es hat mich gefreut, dass mich selbst die Kolleg*innen nicht sofort erkannt haben. Sehr amüsant war auch die Pressekonferenz, die wir während des Drehs organisiert hatten, wo Vertreter*innen der Presse und der Fördergeber gefragt haben, „Ja, wo ist denn nun die Frau Mitterhammer?“, obwohl ich daneben stand. Wann darf ich das denn machen? Wenn nicht in meinen eigenen Filmen.

 

Die Frauen werden von ihren Geiselnehmern sehr demütigend behandelt, der Film zeigt das. Rechnen Sie mit Kontroversen, die der Film auslösen kann?

MARION MITTERHAMMER: Es ist mir völlig klar, dass dieser Film Diskussionen auslösen wird, weil er Szenen zeigt, in denen Frauen wirklich demütigend behandelt werden. Das war leider Gottes der Fall. Wir zeigen es mit unseren Mitteln. Diskussionen werden folgen und sind durchaus gewollt. Wenn der Film schockiert, dann haben wir es richtig gemacht. Ich habe mir als Gedankenexperiment die umgekehrte Konstellation überlegt. Was wäre, wenn drei Frauen drei Männer im Gefängnis in ihre Gewalt bringen und demütigen? Es erscheint mir ein Ding der Unmöglichkeit. Die Fragen, die uns ein großes Anliegen waren und denen wir in TAKTIK vielleicht auch nachgehen wollten, lauten: „Wozu sind Menschen fähig? Was machen Menschen, wenn sie plötzlich Macht haben? Was passiert, wenn das Unvorstellbare zuschlägt?“ Drei Häftlinge haben plötzlich Macht an sich gerissen, nachdem sie sich jahrelang unterdrückt gefühlt haben. Es ist mir nochmals wichtig zu betonen, dass wir nicht den wahren Vorfall nacherzählen, der Ende der neunziger Jahre in Graz passiert ist, meine Heldinnen sind ganz klar die drei Frauen. Ich habe mich entschieden, den Schmerz und die Demütigung zu zeigen, das wird für Diskussionen sorgen, aber das ist unsere Welt. Leider.

 

Interview: Karin Schiefer

Oktober 2020