Im Gespräch mit Susanne Brandstätter
“Die Wissenschaft tappt so sehr im Dunklen.”
Es ist ein Widerhall aus Gegenwart und Zukunft, aus Fiktion und Faktenlage, aus Realität und Dystopie, den Susanne Brandstätter in ihrer hybriden Erzählung HUNGRY erzeugt. Der Wunsch, mehr über Nahrungsergänzungsmittel herauszufinden, zog eine Recherche nach sich, die sie immer tiefer ins Zusammenwirken von Pharma- und Lebensmittelindustrie, in die Grenzgebiete der Vertrauenswürdigkeit von Forschung und zu den beunruhigenden Konsequenzen des unstillbaren Hungers nach Mehr führte.
HUNGRY führt ins komplexe Zusammenwirken verschiedener Faktoren, die unsere Umwelt ebenso wie unsere Gesundheit bedrohen. Ihre Ausgangsfrage scheint zunächst eher enger gefasst gewesen zu sein, hat jedoch immer weiter geführt. Wo haben Sie diese Frage angesetzt?
SUSANNE BRANDSTÄTTER: Vor sieben Jahren habe ich eine Recherche zu Nahrungsergänzungsmitteln begonnen. Ich hatte einen Großvater, der sehr alt geworden ist und immer bei bester Gesundheit war. Er hat mir wiederholt gesagt: „Vergiss nicht, täglich Vitamine zu dir zu nehmen.“ Es kam der Zeitpunkt, wo ich beschloss, zum Thema Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel zu recherchieren. Je mehr ich aber in die Materie eingetaucht bin, umso seltsamer erschienen mir gewisse Zusammenhänge, denn Ergebnisse von Studien wirkten oft etwas zu positiv oder zu einseitig. Viele der Studien werden zwar an Universitäten erstellt, sind aber von privaten Firmen finanziert. Auf Basis dieser Studien gehen dann Pressemitteilungen raus, die von Journalist*innen oft unhinterfragt übernommen werden. Recherchiert man aber nach, stellt sich heraus, dass z.B. eine Pharmafirma dahinter steht, die auf diese Weise eine Geschichte in die Welt setzt, die über die Medien für bare Münze genommen wird, obwohl die Ergebnisse nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen. Das wahre Motiv hinter solchen Studien liegt oft in der Verkaufsstrategie von bestimmten Produkten.
Was hat Ihr Interesse an Nahrungsergänzungsmitteln geweckt?
SUSANNE BRANDSTÄTTER: Der damaligen Auslöser war, als ich zufällig von „verborgenem Hunger“ gelesen habe. Das ist, wenn man einen Mangel an lebenswichtigen Mikronährstoffen hat, also an Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen. Das kann vorkommen, wenn man unterernährt ist, unter bestimmten Krankheiten leidet oder wenn man sich einseitig oder ungesund ernährt. Mir fiel auf, wie die Angst der Konsumenten regelrecht geschürt wurde, bis sie glaubten, von verborgenem Hunger bedroht zu sein. Eine gelungene Verkaufsstrategie der Nahrungsergänzungsmittelindustrie. Ich war außerdem schockiert festzustellen, dass Nahrungsergänzungsmittel, die man in der Apotheke kaufen kann, im Vergleich zu Medikamenten nicht denselben strengen Regulierungen unterliegen. In Nahrungsergänzungsmitteln können sich sowohl die Dosierungen als auch Zusatzstoffe als problematisch erweisen. Je tiefer ich in die Thematik eingedrungen bin, umso mehr eröffneten sich weitere Verbindungen. Da Nahrungsergänzungsmittel als Lebensmittel klassifiziert werden, war es naheliegend, in der Lebensmittelindustrie weiter zu recherchieren. Eines ergab dann das andere und ich habe z.B. entdeckt, dass immer öfter Lebensmittel- und Pharmakonzerne fusionieren. Oder ich bin auf Absurditäten gestoßen wie z.B., dass ein Süßwarenhersteller eine Stiftung für wissenschaftliche Forschung einrichtet, Forschungsaufträge vergibt und Ergebnisse an die Öffentlichkeit bringt, die dann wieder den Konzern dabei unterstützen, Produkte auf den Markt zu bringen, die den gesundheitlichen Schaden, der durch die Süßwaren entstanden ist, behandeln. Es war nicht zu glauben. Zuerst verkaufen sie das ungesunde Zeug und dann vermarkten sie die Lebensmittel, die uns dann wieder davon heilen sollen.
SUSANNE BRANDSTÄTTER: Ich begann zu überlegen, wie sich alles auf unsere Gesundheit auswirkt und wie sehr auch die Lebensmittelproduktion und die Agrarindustrie eine schädliche Wirkung auf unsere Umwelt haben. Ich spreche hier nicht nur von Konzernen, die man immer wieder in den Schlagzeilen hört, wie z.B. Monsanto etc. Ich meine die ganz herkömmliche industrielle Lebensmittelproduktion. Es hat mich fasziniert, eine Kette von Ursache und Wirkung freizulegen und zu schauen, wie das eine ins andere greift; und vor allem zu erkennen, dass es in Wirklichkeit so viele Dinge gibt, die wir gar nicht verstehen und von denen wir noch gar nicht ahnen, welche Auswirkungen sie auf die Umwelt und unsere Gesundheit haben werden.
Wer waren im Zuge dieser Recherche Ihre Gesprächspartner*innen?
SUSANNE BRANDSTÄTTER: Ich habe hauptsächlich mit Wissenschaftler*innen an Universitäten gesprochen; sehr viele davon sind aus den USA, wie Lewis Ziska, er ist Professor für Pflanzenphysiologie, der sich mit den Auswirkungen von atmosphärischem CO2 auf die Pflanzenwelt beschäftigt, Serita Frey, eine Professorin, die untersucht, wie die menschlichen Aktivitäten unsere Böden und ihre Mikroorganismen zerstören, oder Jack Gilbert, ein Mikrobiologe, der über die Tragweite der Klimaveränderungen auf das menschliche Mikrobiom sowie das Mikrobiom des Ozeans erforscht. Andere Interviewpartner*innen kommen aus Deutschland und Österreich, darunter auch der ehemalige Direktor und Gründer von Food Watch, Thilo Bode.
Irgendwann müssen Sie vor einer enormen Menge an Wissen gestanden sein, für die es eine Form des filmischen Erzählens zu finden galt. Im Vergleich zu Ihren bisherigen Arbeiten wählen Sie einen komplett anderen, nämlich hybriden Zugang.
SUSANNE BRANDSTÄTTER: Ich hatte jahrelang darüber nachgedacht, eine „andere“, halbfiktionale Form zu finden, hatte unzählige Ideen, die ich auch wieder verworfen habe. Und schließlich war es in der Phase der Pandemie, dass mir diese Idee für HUNGRY plötzlich eingefallen ist. Ich arbeite auf zwei Ebenen: Die bildliche Ebene spielt in der Zukunft, im Jahr 2041. Allmählich merkt der Zuschauer, dass es eine Welt ohne Menschen ist. Es gibt scheinbar keine Menschen mehr. Ob das Wesen, das diese Bilder filmt, ein*e Überlebende*r ist, ein*e Außerirdische*r ist oder ob es sich um eine KI handelt, weiß das Publikum nicht, erhält aber immer wieder Hinweise. Parallel dazu gibt es eine zweite Ebene, eine Tonebene: den Soundtrack meines Films Hungry, der von diesem Wesen der Zukunft gefunden und rekonstruiert wurde. Auf der Tonebene hört man Gespräche mit Wissenschaftler*innen, die in unserer Jetztzeit (also in der filmischen Vergangenheit) entstanden sind und die diese Kette von Ursache und Wirkung erläutern. Das Publikum bekommt nach und nach ein Gesamtbild von den Faktoren, die wohl dazu geführt haben, dass die menschliche Spezies anscheinend nicht mehr da ist. Wir wissen nicht, was mit den Menschen passiert ist. Es gibt also eine fiktionale Bildebene, die dokumentarisch gefilmt ist. Die Tonebene – die Stimmen aus der Vergangenheit – ist die dokumentarische Ebene, auf der die Gespräche mit den Expert*innen und Wissenschaftler*innen aufgenommen werden. Ich habe in der Phase der Strukturierung mit Mindmapping gearbeitet und die Kette von Ursache und Wirkung hat sich für mich als der zentrale Punkt entpuppt. Die Themen werden organisch ineinander greifen und wachsen. Und der Stoff entwickelt sich immer noch weiter. Es vergeht kein Tag, ohne dass ich neue Informationen, neue Forschungen, neue Erkenntnisse entdecke.
Wie finden Sie dokumentarische Bilder für eine Zukunft ohne Menschen?
SUSANNE BRANDSTÄTTER: Das ist eine schwierige Aufgabe. Es funktioniert, indem ich einerseits eine realistische, andererseits eine abstrakte Darstellungsweise zum Einsatz bringe. Orte, die vollkommen menschenleer sind, sind schon so lange verlassen, dass Bilder davon für den Film nicht glaubwürdig wären. Es kam der Quadratur des Kreises gleich, Orte zu finden, die nicht zu alt und zu devastiert wirkten und doch unsere Ansprüche erfüllten. Ich habe mich also letztendlich für Orte entschieden, die nicht vollkommen menschenleer sind. Bis jetzt haben wir in Spanien, in Deutschland und in den USA gedreht und es sind sehr spannende Bilder entstanden.
Ihre Gesprächspartner*innen wird man nur hören. Heißt das auch, dass die Gespräche nur auf einer Tonebene aufgenommen werden oder drehen Sie trotzdem auch mit ihnen?
SUSANNE BRANDSTÄTTER: Man wird meine Gesprächspartner*innen nur hören. Ich werde die Gespräche nicht drehen, sondern nur remote aufnehmen. Anfänglich habe ich das über Zoom gemacht. Nun haben wir ein Notebook, das über Remote Control von uns aus bedient wird. Die Gesprächspartner*innen bekommen ein Set-Up für die Aufnahme, ich führe ein Interview mit ihnen, das ich dann editiere. Diese Lösung hat produktionstechnische Vorteile, die Aufnahmen müssen aber dennoch so beschaffen sein, dass wir sie dann gut bearbeiten können. Sie müssen einerseits eine so gute Qualität haben, dass man im Kino gerne über eine längere Strecke zuhört, gleichzeitig muss man sie so bearbeiten können, dass glaubwürdig vermittelt wird, dass es sich um „gefundene“ Tondokumente handelt.
Welche Erkenntnis hat Sie in diesem langen Prozess am meisten frappiert?
SUSANNE BRANDSTÄTTER: Möglicherweise war ich auch sehr naiv, aber ich würde sagen, die Erkenntnis, dass die Wissenschaft so sehr im Dunklen tappt. Wir wollen uns in Sicherheit wiegen und glauben, dass die Wissenschaft so viel zu lösen vermag. Die jetzige Jugend ist sehr alarmiert und teilt diese Ansicht weniger; ich teile sie auch immer weniger, seit ich mich so intensiv mit der Thematik beschäftige. Sehr viele Menschen glauben, die Wissenschaft kann alles wieder gut machen. Ich nehme zwei grundlegende Ansätze wahr: Die einen glauben, wir werden überleben, wenn wir lernen, innerhalb der Parameter, die die Natur vorgibt, zu leben. Die andere Seite vertritt die Ansicht, dass alles machbar ist, weil wir Wege finden werden, die Natur und alles, was unsere Gesundheit betrifft, umzugestalten. Die Herausforderung besteht demnach nur darin, herauszufinden, wie das realisierbar wäre. Das sind völlig divergente Ansätze. Ich bin überzeugt, dass die Menschheit sehr resilient ist, ich glaube aber nicht, dass die Natur es im selben Ausmaß ist. Ich tendiere eher zur Meinung der ersten Gruppe, dass wir die Natur respektieren müssen und innerhalb der gegebenen Grenzen zu leben lernen müssen.
Sie entwerfen ein sehr beunruhigendes Szenario in einer greifbaren Zukunft. Ist das Ausdruck einer tiefen Beunruhigung, vielleicht auch von Pessimismus?
SUSANNE BRANDSTÄTTER: Es ist mir wichtig zu betonen, dass ich im Film auch einen gangbaren Weg zeigen möchte, um aus diesem Teufelskreis herauszukommen. Die Verbindung zwischen den wissenschaftlichen Aussagen und diesen rätselhaften, dystopischen Bildern, will ich nutzen, um die Zuschauer*innen zu erreichen. Ich möchte mit dieser hybriden Machart das Publikum fesseln, aufrütteln und zum Nachdenken anregen – aber auch ein Gefühl der Hoffnung wecken, das anspornt und vielleicht sogar zum Handeln bewegt. Es ist mir sehr wichtig, einen dringenden Appell an das Publikum zu richten. Aber es gibt keinerlei explizite Aufforderung zum Handeln, die Botschaft soll implizit über die Aussagen der Wissenschaft ankommen.
Sie werfen ja auch die Frage auf, wo überhaupt die Wissenschaft zu finden ist, der man trauen kann.
SUSANNE BRANDSTÄTTER: Das war ein weiterer Punkt in meiner Recherche, der mich richtig entsetzt hat. Es war ein weiterer wesentlicher Auslöser für die Entwicklung des Films, als ich erkannte, wie viele Forschungsaufträge „bezahlt“ sind. Selbst wenn extra betont wird, dass die Autor*innen in keinem Interessenkonflikt stehen, stimmt das öfters nicht. Marion Nestle, eine meiner Gesprächspartnerinnen, ist emeritierte Professorin der New York University und weltbekannte Expertin für Ernährung, Gesundheit und Lebensmittelstudien – sie hat geprüft, wie wenige Studien es gibt, deren Ergebnisse objektiv sind. Es sind wenige. Meistens ist es PR, die vorgibt, Recherche zu sein.
Steckt hinter dem Titel HUNGRY auch die Idee der Gier?
SUSANNE BRANDSTÄTTER: Die ursprüngliche Idee bezog sich auf die Tatsache, dass wir Lebensmittel zu uns nehmen, die immer weniger Nährwert haben, ohne dass wir es wahrnehmen. Aber eine ganz starke Verbindung besteht auch zwischen den Titel und der unersättlichen Gier nach immer mehr – mehr Geld, mehr Macht etc. Der Untertitel Tipping the Scales ist auch doppeldeutig: auf Deutsch „das Zünglein an der Waage“ soll andeuten, dass es so oder so ausgehen kann… aber, dass durchaus noch Möglichkeiten bestehen, eine positive Änderung herbeizuführen.
Ist Ihr Ausblick trotz allem optimistisch? Oder zumindest konstruktiv?
SUSANNE BRANDSTÄTTER: Ich würde nicht sagen, dass ich eindeutig optimistisch bin. Konstruktiv, ja. Ich glaube schon, dass es noch Möglichkeiten gibt, eine Änderung herbeizuführen. Es lässt sich immer wieder feststellen, wenn Initiativen viele Menschen vereinen, dass eine große Macht entsteht, etwas zu bewirken. Es ist allerdings schwierig. Wirklich schwierig.
Wie sieht Ihr aktueller Zeitplan aus?
SUSANNE BRANDSTÄTTER: Ich drehe bis Herbst 2023 gemeinsam mit Joerg Burger, dem Kameramann, und Lukas Lerperger, der für die Drohne und die Spezialkamera zuständig ist. Wenn alles nach Plan läuft, möchte ich im November mit Lisa Zoe Geretschläger den Schnitt beginnen. Im Schnittprozess wird neben dem dramaturgischen Aufbau der beiden Ebenen auch die Spannung im Bezug auf das unbekannte Wesen eine wichtige Rolle spielen. Mit diesem Suspense-Element möchte ich sehr stark spielen.
Wird sich am Ende die Identität dieses Wesens klären?
SUSANNE BRANDSTÄTTER: Das verrate ich lieber nicht!
Interview: Karin Schiefer
Mai 2023