Kenianische Läufer*innen dominieren die Weltspitze im Mittel- und Langstreckenlauf. Eine Laufkarriere ist eine der wenigen Zukunftsperspektiven in einem polarisierten und ausgebeuteten Wirtschaftssystem. Barbara Gräftner interessiert sich in ihrem Dokumentarfilm Run for your life für etablierte Läufer, aufstrebende Talente, vor allem aber auch für deren soziales Umfeld und familiären Hintergrund. Entstehen soll das Portrait einer afrikanischen Gesellschaft, das deutlich macht, dass die Uhr nicht nur für hochmotivierte Sportler, sondern auch für Europa tickt.

Wenn man das Thema Laufsport in Kenia aufgreift, dann werden mehrere Aspekte angetippt: der sportliche – der medizinisch/wissenschaftliche – und der wirtschaftlich/gesellschaftspolitische. Welche dieser Fährten bildete für Sie den Einstieg in dieses Thema?

BARBARA GRÄFTNER: Grundlage für meinen Arbeitsansatz war die Flüchtlingswelle. Was wir bisher erlebt haben, erachte ich nur als einen Anfang von Migrationsbewegungen, die auf Europa zukommen werden. Was werden wir mit 140 Millionen vom afrikanischen Kontinent Geflüchteten, wie es eine Hochrechnung bis 2050 besagt, tun? Es muss etwas passieren. Wahlkämpfe werden zur Zeit mit dem Sperren von Flüchtlingsrouten und dem Aufziehen von Zäunen gewonnen, keine einzige Partei macht es zum Thema, dass globales Handeln unabdingbar wird und dass vor allem eine global faire Wirtschaft aufgezogen werden muss, um global faire Verhältnisse zu schaffen. Die Diskussion „Wie sollen wir die Menschen die da sind, integrieren?“ geht meiner Meinung nach an der Dimension der Frage vorbei. Wenn die Migration aus Afrika wirklich losgeht, dann wird all das, was bisher war, als verschwindend kleine Vorbotschaften erscheinen. Ich wollte mich mit diesem brisanten Thema Afrika auseinandersetzen. Über Geflüchtete wurde schon sehr viel erzählt. Der Laufsport erschien mir ein interessanter Aufhänger, um Zusammenhänge im Hintergrund des kenianischen Laufwunders aufzuzeigen und Betrachtungen zu bieten, die über die Inhalte der Sportkanäle hinausgehen. Der Leistungssport steht für mich nicht im Vordergrund. Für mich geht es darum, afrikanisches Leben und junge Leute mit ihren Gedanken und Zielen zu portraitieren und die Afrikaner als Protagonisten in den Fokus zu setzen. Sie sollen dem Film ihre Stimme verleihen.

Sind Sie bereits nach Kenia gereist, um sich ein Bild der dortigen Gesellschaft zu machen?

BARBARA GRÄFTNER: Ich wollte das Projekt zunächst in Äthiopien ansiedeln. Dort stellte sich allerdings heraus, dass sich Dreharbeiten extrem schwierig gestalten. Außerhalb von Addis Abeba darf man sich ohne Begleitschutz nicht bewegen. Kenia ist durch den weit verbreiteten Tourismus viel einfacher zu bereisen. Äthiopische Läufer sind sehr stark, das bedeutendste Laufsportzentrum liegt allerdings in Iten in Kenia. Ich war selbst noch nie in Kenia, eine vierwöchige Reise steht aber kurz bevor. Auf ein Thema, auf das ich im Zuge unserer Bemühungen um Drehgenehmigung in Kenia aufmerksam gemacht wurde, ist, dass vor etlichen Jahren die Juteproduktion im Land ruiniert und an deren Stelle Plastik eingeführt wurde. Nun, da Entsorgung und Recycling nie funktioniert haben und ein enormes Umweltproblem entstanden ist, gibt es nun ein striktes Plastiksackverbot und die Jutebauern werden animiert, den Anbau wieder aufzunehmen. Ich denke, da gibt es mehrere anschauliche Beispiele, wie der Westen versucht, in die eigene Tasche zu wirtschaften, ohne jegliche Rücksicht auf die dortigen ökologischen Verhältnisse. Diese Themen möchte ich sozusagen im Windschatten des Laufthemas mitnehmen.

Welche Projektionen bzw.  Zukunftsperspektiven knüpfen sich an eine mögliche Karriere im Laufsport? In welchen Laufdistanzen dominieren die kenianischen Läufer*innen?

BARBARA GRÄFTNER: Die Kenianerinnen dominieren im Mittel- und Langstreckenbereich. Das ist alles zwischen 800m und Marathondistanz. DER Klassiker für kenianische Bestleistungen ist der 3000m Hindernislauf. Noch 1985 kamen 54% der besten Mittel- und Langstreckenläufer aus Europa, 12% aus Kenia und 9% aus dem übrigen Afrika. 2005 lag der Anteil der Europäer an den besten Mittel- und Langstreckenläufern nur noch bei 19%, während 47% aus Kenia kamen und 22% aus dem übrigen Afrika.
Und die Tendenz für die Kenianer ist steigend. Für die Gründe dafür gibt es die mannigfaltigsten Theorien, hier ist auch breiter Raum für Rassismen, die genetische Vorteile als Ursache nennen, die die Europäer mit Training nicht aufholen können. Aber was war vor 1985? Die Fakten sind, dass nicht nur die Kenianer seither immer besser werden, es werden die Europäer einfach immer schlechter. Und das liegt wohl an den Lebensumständen. Während die europäischen Spitzenläufer bis Mitte der Achtziger noch Nachkriegskinder waren, die mit wesentlich mehr Bewegung aufwuchsen als die Generationen danach, haben sich diese Lebensumstände für Ostafrikaner nicht geändert. Und wie bei kaum einem anderen Sport spielt beim Marathon neben den körperlichen Voraussetzungen die mentale Einstellung die wichtigste Rolle. Während man in Europa und den USA aus einer Vielfalt an Möglichkeiten sein Leben zu gestalten, sein Geld zu verdienen, wählen kann, stehen junge Afrikaner quasi mit dem Rücken zur Wand. Unter solchen Umständen fällt es leicht, für den Sport  als einzige Chance für seinen Familienclan „Wohlstand“ zu erwerben (d.h. in Kenia ein Stück eigenes Land plus eigene Kühe und Schulbildung für die Kinder) – 100% zu geben und völlig darauf zu fokussieren. Das ist in den Industrieländern kaum üblich.

Ihr Arbeitstitel Run for your Life impliziert eine Lebensgefahr, die auf mehrere Ebenen umzulegen ist. Auf welche unmittelbaren Gefahren spielen Sie an?

BARBARA GRÄFTNER: Zunächst denke ich an das materielle Überleben der Kenianer: sie müssen auf der materiellen Ebene um ihr Leben laufen, da es kaum Ausbildungsmöglichkeiten gibt oder selbst für die wenigen, die eine Ausbildung haben, gibt es keine Arbeitsplätze. Die grundlegende Perspektive der jungen Menschen in Kenia ist die, nach Europa auszuwandern. Auf einer zweiten Ebene sind Europa in erster Linie, im Prinzip aber die ganze Welt gefordert, schnell politisch zu handeln. Die Perspektive, Mauern aufzuziehen, von denen aus man die Geflüchteten zurückhalten kann, muss schnell von einem vernunftgesteuerten Konzept abgelöst werden. Denn das ist eine Absage an jede humanitäre Grundhaltung und Ethik, die uns jetzt schon in kleinen Dosen untergejubelt wird, damit wir uns langsam daran gewöhnen. Ein Satz wie „Wir werden uns an schreckliche Bilder Europa rennt daher aus meiner Sicht ums ethische Überleben. gewöhnen müssen“ ist Europas unwürdig.

Welche Rolle wird im Film dem Sport per se zukommen?

BARBARA GRÄFTNER: Die Spannung für die Zuschauer wird dadurch erzeugt, dass wir junge Kenianer, die im Alter von zwölf bis vierzehn soeben mit dem Laufsport begonnen haben, beim Training verfolgen und sie zu ihrem ersten Lauf nach Europa begleiten. Daher wird sich das Projekt auch über zwei Jahre erstrecken. Alle jungen Lauftalente streben danach, von einem Manager unter die Fittiche genommen zu werden, der entweder aus den USA oder Europa kommt. Der andere Aspekt, der mir für den Film sehr wesentlich ist, liegt darin, die Familien dieser Jugendlichen, die nichts anderes als ihr Dorf kennen, zu portraitieren, ihre Werte und Kultur bewusst zu machen und zu zeigen, wie sie diese erste Begegnung mit Europa erleben. Auf das bin ich selbst besonders neugierig. Die äußere Spannung wird also von Fragen wie  „Schaffen sie es, zu gewinnen?, sich zu etablieren?, einen Manager zu bekommen? …“ gebildet, während die innere Spannung von der Frage nach der Lebenswelt und den Zukunftsvorstellungen durchschnittlicher Kenianer bestimmt wird. Wie sehen sie sich selbst, wie sehen sie Europa, wie sehen sie ihre Zukunft?

Wer sollen Ihre Protagonist*innen sein?

BARBARA GRÄFTNER: Ich hätte sehr gerne einen männlichen oder weiblichen Superstar. Am liebsten wäre mir Nancy Kiprop. Sie gewann den Wien-Marathon 2017 und lief dabei die zweitschnellste je in Wien gemessene Zeit einer Frau. Sie ist 38 und steht seit 2004 kontinuierlich bei Halbmarathons am Siegespodest, seit 2016 auch bei Marathons. Sie hat selbst zwei Kinder, fünf weitere hat sie adoptiert und mit Hilfe ihres Mannes bewältigt sie Familie und Sport. David Rudisha würde mich als herausragende Figur im Mittelstreckenbereich interessieren. Unser Fokus gilt aber der Langstrecke, weil mich auch interessiert, was sich auf einer so langen Wettkampfdistanz  auf psychischer Ebene abspielt, sei das nun der Umgang mit Gegnern, sei es die Überwindung der Angst vor der Strecke und ihrer Länge. Es interessiert mich das Erleben der Ups and Downs entlang einer Marathonstrecke. Die Protagonistinnen werden sich einerseits aus erfahrenen Läuferinnen wie Nancy Kiprop, oder Chris Chibeboich zusammensetzen, die ihr gewonnenes Geld bereits für das Gemeinwohl angelegt haben und deren Erfolge sichtbar sind, andererseits aus ganz jungen, unbedarften Läufer*innen, die voller Hoffnungen sind und denen eine erste Begegnung mit einer fremden Kultur noch bevorsteht. Ehemalige erfolgreiche Sportler*innen, wie z.B. Marathonweltmeisterin Edna Kiplagat, die jetzt ihr eigenes Trainingscamp und Hotel leitet, sie wird als Trainerin portraitiert. Dass es auch problematische Karrieren gibt, die trotz sportlicher Erfolge in Alkoholismus und Elend enden, soll nicht ausgespart werden. Der Umgang mit plötzlichem Reichtum muss regelrecht gelernt werden. Und das Wichtigste: Die Menschen im sozialen Umfeld dieser Sportler*innen und Trainer*innen.

Hat man das Rätsel um das Erfolgsgeheimnis der kenianischen Läufer geklärt?

BARBARA GRÄFTNER: Es kursieren allerlei Spekulationen um diesen Erfolg, daher möchte ich in Nairobi auch ein sportmedizinisches Zentrum aufsuchen. Eine Theorie führt die Unschlagbarkeit der kenianischen Läufer auf die Schmalheit ihrer Fesseln zurück. Aus bewegungsdynamischen Gründen soll so wenig Gewicht unten an den Beinen lasten, durch die schmalen Fesseln, ist genau an dem Punkt, wo im Lauf der Abdruck erfolgt, sehr wenig Masse vorhanden und soll so einen Vorteil verschaffen. Das wurde aber auch schon wieder widerlegt. Eine andere Erklärung ist die Technik des Vorderfußlaufes, die natürlich ist und die durch das lange Barfuß-Laufen bis ins Alter von zehn, zwölf Jahren unterstützt wird und außerdem die Sehnen stärkt. Das wird wohl die zutreffende Erklärung sein. Außerdem sind sie sehr schlank und ernähren sich praktisch vegetarisch.

Wie sehen die bevorstehenden Reise- und Drehetappen nun aus?

BARBARA GRÄFTNER: Wir werden Anfang April für vier Wochen abreisen. Ich möchte drei Trainingszentren im Rift-Valley, wo sich alle Laufcamps befinden und wo auf 2000 m Höhe trainiert wird,  aufsuchen und mir im Detail ein Bild von der Aufbauarbeit machen. Insgesamt plane ich übers kommende Jahr verteilt mindestens drei vierwöchige Aufenthalte in Kenia und dann ist noch vorgesehen, dass wir unsere ganz jungen Protagonist*innen zu einem europäischen Marathon begleiten, vielleicht gehen sich auch zwei Marathons aus. Boston oder New York als die prestigereichsten Marathons wäre natürlich auch sehr schön.

Interview: Karin Schiefer
März 2018