© Anna Hawliczek

 

„Auch das Alter ist ein Lebensabschnitt, der gestaltet werden soll.“

 

Helene war eine Bühnendiva. Jetzt ist sie über 80, der Glanz von einst ist blass geworden, ihre Lust aufs Dasein ebenso. Ihrem Entschluss, in der Schweiz aus freiem Willen einen Schlusspunkt zu setzen, stellt sich ihre Familie vehement entgegen. Doch der Zufall sorgt für eine Begegnung im rechten Augenblick. Sabine Hiebler und Gerhard Ertl schicken in 80 PLUS zwei ungleiche Freundinnen auf einen turbulenten Roadtrip Richtung Westen, in ein Neuland der Selbstbestimmtheit und ultimativen Freiheit. 

 

Helene, eine der beiden Hauptfiguren, eine betagte, ehemals sehr erfolgreiche Schauspielerin, sagt an einer Stelle im Drehbuch: Als ich über 80 war, wurde ich nur noch als „dement“, „alt und krank“ oder „alt und sterbend“ besetzt. War der Wunsch, eine schöne und reizvolle Rolle für eine Schauspielerin im hohen Alter zu schreiben, eines der Motive für das Drehbuch von 80 PLUS?

SABINE HIEBLER: Christine Ostermayer hat schon in unserem Film Anfang 80 eine Hauptrolle gespielt. Mit ihr noch einmal zu arbeiten, war schon sehr bald unser Wunsch und als wir dann die Idee hatten, eine Art Thelma & Louise-Geschichte für zwei ältere Frauen zu schreiben, haben wir sie sofort gefragt, ob sie mitspielen würde. Wir freuen uns sehr, dass sie zugestimmt hat und auch, dass es jetzt mit der Finanzierung des Projekts rasch geklappt hat.

 

Ihr Film Anfang 80, die Geschichte einer Liebe im Alter mit Christine Ostermayer und Karl Merkatz, war 2011 ein großer Erfolg an den Kinokassen. Welche Gedanken und Erfahrungen haben Sie aus diesem Film jetzt ins neue Projekt mitgenommen?

GERHARD ERTL: Wir haben enormes Feedback auf Anfang 80 bekommen und uns wurde bewusst, dass die Auseinandersetzung mit Alter, Alterdiskriminierung, dem Umgang mit dem letzten Lebensabschnitt im Kino für uns noch nicht auserzählt ist.

SABINE HIEBLER: Die Rückmeldungen haben uns gezeigt, wie sehr der Film, sowohl im familiären als auch im institutionellen Bereich, Vielen als Gesprächsbasis gedient hat, zum Beispiel als Diskussionsansatz mit Großeltern, aber auch im professionellen Pflegebereich. Viele wählen diesen Beruf ja, um sozial tätig zu sein und müssen dann erleben, wie das System kaputtgespart wird. Umso mehr stellt sich die Frage, wie man das Bewusstsein und die Sensibilität für die Bedeutung dieses Bereichs bei Menschen stärken kann, die selbst noch nicht in diesem Alter angekommen sind.

 

War in Anfang 80 Liebe im Alter das zentrale Thema, so schrauben Sie nun inhaltlich die Geschichte bis zur letzten, zur endgültigen Frage weiter. Wie lässt sich das Kernthema von 80 PLUS auf den Punkt bringen?

GERHARD ERTL: Vor dem Hintergrund der Themen Sterbehilfe und Altersdiskriminierung handelt 80 PLUS in erster Linie von Freundschaft und es ist uns sehr wichtig, diesen Inhalten auch mit Humor zu begegnen.

SABINE HIEBLER: Unserem Genre, dem Roadmovie, geschuldet, gehen damit die Aspekte Freiheit und Selbstbestimmung einher. Das sind große Themen, die im Alter sehr schwer zu bewältigen, aber aus unserem Alltag nicht wegzudenken sind. Jede*r von uns ist auf der einen oder anderen Seite mit diesen Fragestellungen konfrontiert. Jede*r möchte ein möglichst hohes Maß an Selbstbestimmtheit leben, es auch seinen alten Familienmitgliedern zugestehen, oft bleibt aber keine andere Möglichkeit, als bevormundende Schritte zu setzen. Es ist sehr schwer abzuwägen, wann eine Maßnahme zum Schutz der älteren Person geschieht und wann dies bereits eine Bevormundung darstellt. In 80 PLUS geht es um die Selbstbestimmung bis hin zur letzten Entscheidung, nämlich der Inanspruchnahme von Sterbehilfe und dem familiären Konflikt, den dieser Schritt auslösen kann. Das Thema wird in Österreich sehr kontrovers gesehen. Es sind inzwischen zwar gesetzliche Schritte gesetzt, de facto ist Sterbehilfe hierzulande aber nur sehr schwer in Anspruch zu nehmen. Die Schweiz hat in dieser Hinsicht eine längere Tradition und einen anderen gesellschaftlichen Umgang damit.

GERHARD ERTL: Sterbehilfe bleibt ein brisantes Thema. Wer darf sich anmaßen, über Leben und Tod, über ein selbstbestimmtes Lebensende zu entscheiden? Es stehen auch institutionelle und wirtschaftliche Interessen dahinter: Das System der Altenversorgung ist nicht daran interessiert, dass Menschen eigenständig darüber entscheiden, ihrem Leben vorzeitig ein Ende zu setzen. Pflege ist auch ein hochkommerzieller Faktor. Pflegebetten wollen ausgelastet sein. Auch diesen heiklen Punkt wollen wir mit unserem Film einmal berühren und vor Augen führen, wie die Gesellschaft mit dem Sterben und einem selbstbestimmten Lebensende umgeht.

 

Ist dem Drehbuch eine eingehende Recherche in diesem Bereich vorangegangen?

SABINE HIEBLER: Selbstverständlich, und man trifft bei vielen, in der Pflege tätigen Menschen, auf ambivalente Positionen und Bedenken – nämlich, dass Angehörige drängen könnten oder betroffene alte Menschen sich bedrängt fühlen, weil sie niemandem zur Last zu fallen wollen, sei es aufgrund der hohen Kosten oder aufgrund des Betreuungsbedarfs. Ich betrachte diese Frage – natürlich aus der bequemen Position heraus, weder Gesetze noch medizinische Vorkehrungen schaffen zu müssen – ähnlich wie die Fristenlösung: Es sollten die Voraussetzungen für eine Wahlmöglichkeit geschaffen und diese für alle zugänglich gemacht werden. In Österreich ist es aktuell so, dass die gesetzlichen Rahmen­bedingen zwar geschaffen sind, in der Praxis findet man jedoch kaum Ärzte, noch ist für eine kranke, pflegebedürftige Person der Behörden-Parcours zu bewältigen. Auch in der Schweiz ist der Schritt zur Sterbehilfe einer, der sich nicht leichtfertig machen lässt, auch wenn man gerne etwas hemdsärmelig von „Sterbetourismus“ spricht. Niemand, der diesen Schritt plant, kann das spontan entscheiden. Niemand, der diesen Schritt in Erwägung zieht, macht das ohne massive Gründe.

GERHARD ERTL: Aktuelle Erfahrungsberichte bezeugen einen sehr mühsamen Hürdenlauf, um diesen letzten Akt auch praktisch umzusetzen. Es herrscht starker Gegenwind seitens der Palliativmedizin, seitens der katholischen Kirche und, wie bereits erwähnt, auch seitens der Behörden. Dieser ganze Instanzenlauf ist noch immer kaum bewältigbar.

SABINE HIEBLER: Was uns allerdings schon bei der Arbeit an Anfang 80 überrascht hat und was sich in diesen letzten zehn Jahren nochmals verstärkt hat, ist die hohe Befürwortung seitens der Bevölkerung.

 

80 PLUS wird von zwei weiblichen Hauptfiguren getragen: Helene – einiges über 80, dargestellt von Christine Ostermayer sowie die etwas jüngere Toni, dargestellt von Margarethe Tiesel. Es handelt sich um ein sehr ungleiches Gespann. Wie lässt es sich charakterisieren?

SABINE HIEBLER: Frauen jenseits der 50/60 sind sowohl in Österreich als auch international im filmischen Erzählen sehr wenig präsent – und wenn, dann meist als homogene Gruppe, die auf einem Bankerl sitzend ins goldene Herbstlaub schaut. Allein schon deshalb war es uns sehr wichtig, zwei sehr konträre Individualistinnen zu zeichnen: Helene ist eine gealterte Film- und Fernsehdiva, die lebensüberdrüssig in einer Seniorenresidenz für betuchte Insass*innen wohnt; Toni hingegen kommt aus prekären Verhältnissen, hat zeitlebens als Pflegerin gearbeitet, allein einen Sohn großgezogen und musste aus gesundheitlichen Gründen frühzeitig in Pension gehen. Sie musste sich ihr Leben lang durchkämpfen, hat sich dabei aber die Fähigkeit bewahrt, Gelegenheiten beim Schopf zu packen und sich nötigenfalls auch einmal etwas zu ermogeln oder zu ertrutzen.

GERHARD ERTL: Gerade in ihrer Unterschiedlichkeit gelingt es beiden, ihre eingefahrenen Lebensmuster aufzubrechen. Gerade die unterschiedlichen Herkunftsmilieus eröffnen ihnen gegenseitig Wege, die weder für die eine noch für die andere alleine gangbar gewesen wären. Es braucht das kathartische Zusammentreffen dieser ungleichen Figuren.

 

Neben der Frage der Sterbehilfe ist ein weiteres wesentliches Thema von 80 PLUS die Lebensbilanz. Man ist veranlasst, von den beiden konträren Lebensgeschichten, die eine als Erfolgsgeschichte, die andere als ein eher nicht so geglücktes Leben zu betrachten. Es wird aber auch gleich klar, dass für eine Frau, egal aus welchem Milieu sie stammt, die Entscheidung für etwas, gleichzeitig den Verzicht auf etwas anderes bedeutet.

SABINE HIEBLER: Eine Karriereentscheidung ist in der Tat auch heute für Frauen noch nicht annähernd so einfach wie für Männer. Hätten wir männliche Protagonisten, dann stände es außer Frage, dass ein alternder Star neben seiner großen Karriere auch eine Familie haben kann. Und unter Alleinerzieher*innen kenne ich in erster Linie Frauen, von denen immer noch erwartet wird, dass sie alleine zurechtkommen.

 

Wie ist die Entscheidung gewachsen, die Geschichte der beiden als Roadmovie zu erzählen?

GERHARD ERTL: Das Genre Roadmovie begleitet uns schon seit dem Anfang unserer filmemacherischen Aktivitäten. Außerdem haben wir ein Faible für den amerikanischen Independent-Film. Das Roadmovie, das Genre der Freiheit und Selbstbestimmung, zieht sich durch unsere gesamte Filmarbeit, es ist einfach eine unserer großen Vorlieben. Insofern hat es sich perfekt getroffen, dass wir die Thematik, die uns bewegt hat, mit diesem Genre kombinieren können und sowohl das Thema als auch unsere Hauptfiguren on the road bringen.

 

Wie wichtig war es, in dieser Erzählung, in der es um die letzten Fragen geht, den Ton der Komödie dominieren zu lassen?

GERHARD ERTL: Das war uns sehr wichtig. Wir denken, dass gerade Humor eine große Chance bietet, den letzten Lebensabschnitt aus der tabuisierten Ecke zu holen. Es wäre sinnlos, einen Film über Sterbehilfe deprimierend zu erzählen. 80 PLUS soll ein sehr vitaler Film über das Sterben-Müssen werden.

SABINE HIEBLER: Ich glaube, dass es in der Gesellschaft auch eine Alters- und Sterbekultur geben sollte. Es handelt sich ja auch nur um einen Lebensabschnitt. Wie Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter, sollte auch das Alter und die letzte Lebensphase ein Abschnitt sein, der gestaltet werden soll und nicht tabuisiert und abgeschottet im kleinen Kämmerchen durchgestanden werden muss. Es war eine wesentliche Motivation für uns auch hier Lebensfreude zu vermitteln.

GERHARD ERTL: Zumal ja jetzt auch eine ganz andere Generation ins Altersheim „eincheckt“. Die 68er-Generationen hat eine andere Vorstellung von Freiheit und Selbstbestimmung als vorherige Generationen. Es hat sich mittlerweile zwar schon einiges geändert, aber noch nicht genug.

 

Was hat sich konkret geändert?

SABINE HIEBLER: Es gibt ein anderes Selbstbewusstsein, ein Bedürfnis mobil zu sein, Reisen zu machen und sich dabei nichts dreinreden zu lassen. Die sogenannten Best Ager – die noch mobile Altersgeneration – ist eine sehr kaufkräftige Gesellschaftsschicht, die sich nicht von einem Tag auf den anderen aufs Abstellgleis stellen lässt. Hier bleibt aber Vieles immer noch eine Frage des Geldes.

GERHARD ERTL: Altersarmut und Einsamkeit bleiben riesige Themen. Mit den entsprechenden Mitteln Best Ager zu sein, fällt nicht so schwer. Für den Großteil der Bevölkerung sieht es aber anders aus.

 

Helene erlebt die Theaterprobe ihrer Lieblingsschülerin, die eine Rolle in einem Theaterstück von Simone de Beauvoir spielt, in der einst auch sie selbst brilliert hat. Wie fiel die Wahl auf dieses einzige Theaterstück der französischen Autorin?

SABINE HIEBLER: Das wenig bekannte Stück Die unnützen Mäuler wurde von uns für 80 PLUS quasi wiederentdeckt. Es erzählt von einer Stadt im Belagerungszustand, in der die „Stadtväter“ beschließen, die Alten, Frauen, Kinder und Schwachen dem Feind auszuliefern, um so das Überleben der Stadt zu gewährleisten. Letztlich entscheiden sich die Bewohner*innen gemeinsam gegen diese Maßnahme, die bedeuten würde, nicht mehr die Stadt, die Gesellschaft zu sein, die sie sein möchte. Das Stück spiegelt damit mit umgekehrten Vorzeichen unsere filmische Grundfrage: Wer hat das Recht, über das Leben und Sterben der anderen, der Schwächeren zu entscheiden? Ist es letztlich eine Gesellschaft der Stärkeren? Oder gehen wir mit Alten und Schwächeren mit Sorgfalt und Respekt um? Simone de Beauvoir hat ja neben Das andere Geschlecht das ebenso umfassende Werk Das Alter geschrieben, in dem sie dieser Frage nachgeht und eine Gesellschaft daran bemisst, wie diese mit ihren Alten umgeht.

 

80 PLUS spricht nicht nur das Thema Alter ganz allgemein an, es berührt über die Rolle der Helene auch die Frage, was Älterwerden für eine Schauspielerin bedeutet. Insofern erzählt Christine Ostermayer in ihrer Interpretation der Helene unweigerlich auch von sich selbst.

SABINE HIEBLER: In die Rolle der Helene ist natürlich auch viel Persönliches von Christine eingeflossen. Wir haben damals schon vor und während Anfang 80 oft mit ihr gesprochen und waren auch während des jetzigen Drehbuchprozesses mit ihr im Austausch. Daher sind natürlich einige ihrer Erzählungen und Gedanken zum Tod und zum Verlust vieler Kolleg*innen und Altersgenoss*innen in den Film eingeflossen.

 

Das Roadmovie wird auch die Dreharbeiten in Bewegung halten. In welche Richtung werden sich die beiden Frauen bewegen? Wie sehr muss auch auf die Belastbarkeit ihrer älteren Hauptdarstellerin Rücksicht genommen werden?

SABINE HIEBLER: Wir sind in unserer Geschichte sehr stark auf unsere beiden Hauptfiguren fokussiert. Christine Ostermayer und Margarethe Tiesel haben in der Tat anstrengende und lange Dreharbeiten vor sich, daher versuchen wir, alles so komfortabel, wie es eine Reise eben zulässt, zu gestalten. Beide Hauptdarstellerinnen sind sehr erfahrene und sehr professionelle Schauspielerinnen, die mit ihren Kräften und ihrer Disziplin sehr engagiert zu Werke gehen. Wir sind gerade dabei, die Location-Suche abzuschließen und freuen uns sehr auf unser erfahrenes und eingespieltes Team zurückgreifen zu können. Konzeptuell bewegen wir uns aus der Institution heraus zunehmend in eine wachsende Freiheit und werden dem  in der Bildgestaltung Rechnung tragen. Wir werden von Wien Umgebung nach Tirol und dann weiter in die Schweiz reisen.

GERHARD ERTL: Wien – Zürich mit einigen Umwegen.

 

Interview: Karin Schiefer

April 2023