"Ich nenne Hochwald gerne einen modernen Heimatfilm"

In Evi Romens Spielfilmdebüt Hochwald schlägt sich ein junger Mann durchs Dickicht seiner dörflichen Welt, in der es schwierig geworden ist, zwischen Tradition und urbanem Zeitgeist, zwischen dem Fremden und dem Vertrauten, zwischen Berg und Tal, Glück und Unglück die Orientierung nicht völlig zu verlieren.

Bei der Lektüre des Drehbuchs von Hochwald habe ich den Eindruck gewonnen, dass einerseits die Geschichte eines jungen Mannes im Mittelpunkt steht, vielmehr aber noch ein Bild unserer komplex und kompliziert gewordenen Welt. Vieles ist vielleicht im Zuge des Schreibprozesses entstanden. Gab es dennoch ein Ereignis, das den Anstoß für Hochwald geliefert hat?

Evi Romen: Wie bei vielen Geschichten war es auch in diesem Fall ein Unglück, das sich ereignet hat. Ein Unglück zieht filmisch interessante Reaktionen nach sich. Ich wollte sozusagen das Echo eines aus einer großen Sache entstandenen Unglücks in einem kleinen Kosmos erzählen. Was passiert, wenn etwas passiert, mit dem niemand rechnet? In einem kleinen Dorf ist man vielleicht auf einen Absturz beim Bergsteigen, auf einen Autounfall gefasst, aber nicht, dass jemand aus der Dorfgemeinschaft Opfer eines Terroranschlags wird. Konkreter Anlass war das Bataclan-Attentat 2013, in dessen Folge ich in einer kleinen Zeitungsmeldung von einem Südtiroler gelesen habe, der in Paris umgekommen war. Die fiktive Resonanz dieses Einzelschicksals bildete den Stoff für mein Drehbuch.

Haben gegensätzliche Pole wie das Dörfliche und das Urbane, das Lokale und das Globale, das Oben und Unten des Dorfes wichtige Spannungsbögen für die Erzählung geliefert?

Evi Romen:  Mich interessieren die psychologischen Spannungen, die zwischen Dörflichem und Urbanem entstehen. Die Hauptspannung für mich entsteht rund um die Frage, wie sich das „Fremde“ in einer modernen und gleichzeitig doch altmodischen Gesellschaft etabliert. Was ist ein Dorf heute? Wie weltoffen ist man, wieviel Fremdartiges wird tatsächlich akzeptiert, wo verschwimmen die Grenzen zwischen „so sind wir“ und „so sind andere“?

Die zentrale Frage in Hochwald ist die der Identität und Zugehörigkeit. Angefangen von der sexuellen Identität, die bei den Hauptfiguren nicht festgelegt ist, aber auch die der sozialen und familiären Zugehörigkeit.

Evi Romen: Keine Figur in Hochwald ist genau definiert, und gerade im Nicht-Definieren von Identität liegt für mich Spannung. Das hat auch damit zu tun, dass die Geschichte in Südtirol spielt, ich Südtirolerin bin, und die Identitäts- bzw. Zugehörigkeitsfrage sehr tief in mir ver-wurzelt ist. Hochwald spielt mit dem Wechsel von Sprache, mit Oben und Unten, mit Dorf und Stadt, mit Global und Lokal. Menschliches Leben ist eine ständige Suche nach Identität und ein Spannungsfeld, wie zweisprachiges Land, verschärft dies nochmal.

Es gibt mit Mario eine Hauptfigur, die wiederum in einem dichten Geflecht aus vielen Figuren agiert. Wie charakterisieren Sie Ihre Hauptfigur, wie wichtig war es Ihnen, dass viele gewichtige Figuren die Geschichte tragen?

Evi Romen: Das Geflecht der vielen Figuren ist beim Lesen sicher schwieriger zu fassen, als letztlich im Film. Bild hat den Vorteil, dass man sich Menschen in Sekundenschnelle einprägt. Die Vielzahl der Figuren hat mir immer wieder Bedenken von Dramaturgen eingebracht, die ich nicht wirklich geteilt habe, und die sich beim Drehen auch nicht bewahrheitet haben. Ich denke, man bleibt sehr gerne bei der Hauptfigur und entdeckt mit ihr seinen Kosmos.

Wie würden Sie Mario charakterisieren?

Evi Romen: Zerbrechlich, durchlässig, rotzig. Er ist jemand, der im Gegensatz zu seinem Freund Lenz, der einer wohlhabenden Familie entstammt, keine guten Chancen im Leben hat und sich dessen auch mehr als bewusst ist. Bei jungen Leuten ist es deutlicher sichtbar als bei älteren, dass es immer die Unbekümmerten gibt, denen alles zu gelingen scheint, ohne dass sie sich große Fragen stellen; andere merken sehr früh, dass nicht alles so einfach läuft im Leben. Sie grübeln, hadern mit ihrer Herkunft und lassen sich entmutigen. Letztlich ist das Schicksal auf Marios Seite. Aber: „Was ist schon Glück?“

Mit welchen Vorstellungen sind Sie ans Casting herangegangen?

Evi Romen: Ich habe nach dreißig Jahren Erfahrung als Editorin ein sehr geschultes Auge und kann mir zum Glück gut vorstellen, was ein*e Schauspieler*in in einen Film einbringen kann. Es hat keine lange Casting-Phase gegeben. Für die Besetzung von Mario habe ich mich letztlich für Authentizität entschieden und einen Südtiroler genommen, auch wenn nicht seine Sprachfärbung den Ausschlag gegeben hat.

Mit dem Erzählen von Sein und Schein im Dorf gewinnen auch Kostüme, Masken und Verkleidungen eine Rolle, die gerade bei Mario eine Fluchtmöglichkeit in eine andere Identität erlauben. Macht es auch einen Umgang mit dem Verbergen als Modus vivendi in einem Dorf sichtbar?

Evi Romen: Es gibt ein prägnantes Symbol, eine Afro-Perücke, sozusagen eine Art „Geweih“, das in dieser ländlichen Umgebung für ein Spiel zwischen Tier- und Menschenkopf steht und im Kopf der Zuschauer*innen eine Phantasie anregen mag. Ich habe in dieser Hinsicht beim Dreh im Vergleich zum Drehbuch stark reduziert, umso stärker sticht die Perücke jetzt hervor. Dass Verborgenes an völlig unerwarteten Momenten zum Vorschein kommt und das oft nur in kurzen Andeutungen, ist mir ein weiteres wichtiges Thema. In einer Dorfgemeinschaft gibt es immer Leute, die etwas nicht wissen. Meistens aber wissen es mehr Menschen als man meinen würde, es wird aber nie offen darüber gesprochen. Ich möchte eine Gesellschaft zeigen, in der Andersartigkeit eigentlich akzeptiert ist (das wird im Speziellen zwischen Vater und Sohn erzählt), andererseits kommt die Angst vor der Andersartigkeit im Gewand einer modernen Welt durch. Ich nenne Hochwald gerne einen modernen Heimatfilm, der mit archaischen Dingen spielt und gleichzeitig zeigt, dass die Haltung der Leute nicht mehr so engstirnig ist. Dennoch steht eine Ungewissheit im Raum: Nur weil man etwas nicht mehr verteufelt, heißt es noch lange nicht, dass man nun weiß, wie man damit umgehen soll.

Die Welt in Hochwald zeigt, wie komplex das Leben geworden ist und ihre Geschichte verweigert eindeutige Positionen.

Evi Romen: Dass Mario nach dem Überleben eines Terroranschlages ausgerechnet bei Koranverteilern Trost findet, macht deutlich, was ich erzählen will. Die Strukturen, die es früher in einem Dorf gab, wo Einsamkeit durch den beinahe inzestuösen Zusammenschluss vor allem über Vereine bewältigt wurde, sind nicht mehr gegeben. Was ist heute ein Dorf? Meist ein Ort voller Pendler, Leuten, die billig wohnen wollen und einigen, die versuchen, mit den Gegebenheiten ein Geschäft zu machen.

Der Titel Hochwald bezieht sich auf den Namen des Dorfes. Wurde auch in einem Südtiroler Dorf gedreht?

Evi Romen: Ganz genau genommen ist das Dorf ein wenig zusammengestückelt. Vom Dorf selbst sieht man kaum etwas, ebenso wenig wie von der Stadt. Die Orte sind im Grunde kaum festzumachen. Auch die Südtiroler Landschaft blitzt nur in ganz wenigen Momenten durch, so, wie es dem Blick eines Einheimischen entspricht. Ein Einheimischer schaut nicht ständig aus dem Fenster, um die Berge zu betrachten, er nimmt die Umgebung nicht wie ein Tourist wahr. Das war eine bewusste Entscheidung. Es gibt viel versteckte Symbolik, die kaum wahrzunehmen ist – Kirche, Kreuz, Blut … wenig Berg.

Wie haben Sie Ihr Debüt als Regisseurin am Set selbst erlebt?

Evi Romen: Ich bin seit dreißig Jahren in der Branche und habe sehr viel Irrsinn gesehen. Der ist gerade bei meinem Film nun geballt über mich hereingebrochen… Ich hatte das Gefühl, irgendwo im Ozean auf einem zu kleinen Schiff herumzugondeln, aber ich war nicht allein, und vor allem zu den Schauspieler*innen hatte ich eine sehr gute Verbindung.

Wie schreibt man eigentlich als so erfahrene Editorin ein Drehbuch?

Evi Romen: Dazu muss ich weiter ausholen: Eigentlich wollte ich immer Schriftstellerin werden, habe ihn jungen Jahren geschrieben, auch Kurzprosa-Preise gewonnen. Ich war also auf einem ganz anderen Weg, als plötzlich die Faszination für Film da war. Innerhalb des komplexen Prozesses Film habe ich für mich festgestellt, dass das Schreiben am deutlichsten im Schnitt und nicht im Drehbuch seine Entsprechung hat. Das Drehbuch ist die Erfindung der Geschichte per se, also Schriftstellerei. Das Filmischste am filmischen Schreiben ist aber das Schneiden. Ich merkte, dass ich nach dreißig Jahren Schnitterfahrung sehr knapp und prägnant mit Zeit in einem Drehbuch umgehe und ellipsenartig denken kann.

War nicht zu Zeiten, als Sie im Bereich der Filmmontage zu arbeiten begonnen haben, der Beruf der Editorin ein klassisch weiblich besetzter Beruf?

Evi Romen: Allerdings nur in Österreich. In Italien gab es nur eine renommierte Editorin, in den USA ist einzig Selma Schoonmaker zu Berühmtheit gelangt. Der Grund lag darin, dass die Schneidetische sehr groß und nicht so einfach zu bedienen waren. Als Steenbeck einen leichteren, handlicheren Schneidetisch auf den Markt gebracht hat, wurde der Beruf Stück für Stück vor allem im deutschsprachigen Raum weiblicher. In Österreich hat man für die Wien-Film eine Näherei übernommen und man hat die Näherinnen umgeschult. Die Regisseure haben unten im Studio gedreht, sind rauf zu den Näherinnen und haben angekreuzt, wo diese schneiden sollten. Deshalb hatte dieser Beruf hier lange einen schlechten Stellenwert. Die Erfahrung, dass man etwas nicht kann, weil man eine Frau ist, habe ich erst in meiner Zeit in Österreich gemacht. Ich habe ja nicht nur Schnitt, sondern auch Kamera studiert. Nie hat mich in Südtirol jemand gefragt, wie ich mir das als Frau vorstelle. Ganz im Gegenteil. Gerade als Italienerin fällt es mir in Österreich besonders auf. Italiener sind zwar mammoni, aber ein so abwertendes Frauenbild wie hier, ist mir in Italien nie begegnet, muss ich leider sagen. Das ist erschreckend und vor allem traurig. Es wäre so einfach, wenn wir zusammenarbeiten könnten und es weniger darum ginge, wer welches Geschlecht hat.  Ich selbst habe sehr lange gebraucht, zu kapieren, dass man vieles macht, weil man eine Frau ist, auch wenn man sich selbst als total emanzipiert einschätzt. Zuarbeiten zum Beispiel.

Aus Ihren Schilderungen – Literatur, Musik, Kamera, Schnitt – klingt ein sehr interessanter und vielfältiger künstlerischer Parcours durch. Wie kam es dann zu dieser plötzlichen Faszination für Film?

Evi Romen: Als erstes sollte ich Konzertpianistin werden. Dafür musste ich aber zuviel üben. Dann habe ich mich mit Fotografie beschäftigt und zu Schreiben begonnen. Als ich eine Sommerakademie für Fotografie absolviert habe, hat ein Professor zu mir gesagt, was ich mache, sei eigentlich filmische Montage.  Das klang interessant, und ab dem Moment war mein Interesse für Film geweckt. Zunächst habe ich neben der Schule in einem Programm-Kino gearbeitet, und bin dann auf die Filmakademie, wo ich die Zufallsbegabung Schnitt entdeckt habe. Ich habe Schnitt und Kamera studiert, weil es mir klüger schien, die Gelegenheit technische Disziplinen zu erlernen, zu nutzen.

Wann und warum war die Lust da, selber Regie zu führen?

Evi Romen: Um ehrlich zu sein, ich mache jetzt schon so lange Schnitt. Ich dachte mir, bevor sich die Frustration vor die Liebe stellt, probiere ich etwas Neues aus. Ich wollte künstlerisch wachsam bleiben und eine neue Herausforderung haben.

Interview: Karin Schiefer
September 2019