© Johannes Hoss

 

Wie schnellglaubt man, nicht dazuzugehören?

 

Das rasante Bewegungstempo war ein Grund, weshalb Clara Stern entschied, ihr Spielfilmdebüt WENN WIR DIE REGELN BRECHEN im Milieu des Eishockeysports spielen zu lassen. Es war aber nicht der einzige. Der Panzer, in den sich die Spielerinnen einpacken müssen, um im Wettstreit auf der glatten Oberfläche bestehen zu können, bot ein treffendes Bild für die Geschichte einer jungen Frau, die eine wachsende Krise dazu zwingt, Schicht für Schicht sich selbst auf den Grund zu gehen.

 

Eines der dominierenden Motive in WENN WIR DIE REGELN BRECHEN ist ein Mannschaftssport, der in der Regel eher männlich konnotiert ist und der auch als sehr hart und körperbetont gilt. Gab es auch andere Sportarten als Option? Was hat Sie letztlich zu Eishockey als sportlichem Background geführt?

CLARA STERN: Von Beginn an stand fest, dass meine Hauptfigur Profisportlerin ist. Das war mir deshalb wichtig, weil ich immer nach einer visuellen Ebene suche, die nonverbal zum Ausdruck bringt, wie es meiner Hauptfigur geht. Sport fasziniert mich umso mehr, als ich selbst sehr unsportlich bin. Es fasziniert mich die Disziplin, vor allem die Selbstdisziplin. Kurz stand auch Fußball zur Debatte, ich hatte aber das Gefühl, dass zu Sportarten wie Fußball, Volleyball oder Handball bei Frauen schon viele Klischees existierten. Ich vertiefte nochmals meine Recherche und als ich mir ein Match des Wiener Fraueneishockeyvereins Vienna Sabres angeschaut habe, wusste ich, dass das der Sport für meinen Film war: die Geschwindigkeit, die Tatsache, dass die Körper der Frauen so eingepackt sind, dass sie nicht das Objekt der Schaulust sind, sondern wirklich der Sport selbst im Vordergrund steht. Auch der Umstand, dass die Spielerinnen ineinander krachen und weiterfahren, ohne sich zu entschuldigen, gefiel mir. Es hat mich fasziniert, Frauen zu zeigen, die in einem Drive sind und für ihr Team kämpfen. Im Zuge meiner Recherche war ich auch in den Umkleidekabinen und es war interessant zu beobachten, wer sich aus dieser Schutzkleidung herausschält. Es ist, als könnte man eine Schale, einen Panzer aufmachen und fragen, wer da drinnen steckt. Das fand ich von der Metapher her sehr schön für meine Hauptfigur. Ein weiteres Argument war die Geschwindigkeit. Fußball so zu filmen, dass es schnell wirkt, ist sehr schwierig. Beim Eishockey stellte sich umgekehrt die Frage, ob wir überhaupt mitkommen.

 

Wie sehr hat auch die Unsicherheit, die der eisige Untergrund bedeutet, eine Rolle gespielt? Vor allem im Gegensatz zu Miras Berufsfeld als Weinbäuerin? Ging es Ihnen auch darum, zwei konträre Universen zu erschaffen?

CLARA STERN: Das Spannende am Eishockey ist, dass es sehr taktisch, aber auch schnell, brutal und hart ist. Man muss sich auch vor Augen halten, dass die Spielerinnen sich panzern, am Spielfeld als Team agieren, nach dem Spiel kommt aber ihre Individualität zutage und sie müssen ihre Unsicherheiten herzeigen. Es hat gut zusammengepasst, dass die Eishockeysaison im Frühling zu Ende geht, in einer Jahreszeit, in der ich auch die Weinberge zeigen wollte. Ich wollte keine grüne, sommerliche Pracht. Wenn man im Winter oder Frühling in den Weinbergen ist, dann dominieren Drähte, endlose Reihen von Weinstöcken. Ein wichtiges Bild war für mich der Umstand, dass die Arbeit nie endet; wenn eine Reihe fertig bearbeitet ist, kommt die nächste und noch eine usw. Das mag für manche beruhigend, für andere aber auch einengend sein. Wir haben versucht, mit der Kamera verschiedene Stimmungen in den Weinbergen zu finden, die im Gegensatz zu den neonbeleuchteten Eishockeyhallen etwas sehr Befreiendes hatten; es ist aber auch eine Natur, die etwas sehr Einengendes, Kontrollierendes haben kann. So wie sich meine Figur fühlt, so fühlt sich auch der Weingarten an. Im Fall von WENN WIR DIE REGELN BRECHEN handelt es sich um einen Familienbetrieb und die damit verbundene Abhängigkeit. Es war ein spannender Prozess in der dramaturgischen Zusammenarbeit mit Wolfgang Widerhofer und Michael Kitzberger, uns gemeinsam in die Frage zu vertiefen, wie man diese Abhängigkeiten herausarbeiten kann, um zu zeigen, was für die Figur am Spiel steht. Mir ist es wichtig, immer das Außen als Spiegel zum Innen zu haben.

 

Als Kapitänin ihrer Mannschaft ist Mira leistungsbetont und sie verrichtet auch im Weinberg anstrengende körperliche Arbeit. Man kann sie sich als richtiges Energiebündel vorstellen. Galt es umso mehr in einem Spiel zwischen Innen und Außen, ihre fragilen Seiten herauszuarbeiten?

CLARA STERN: In einem früheren Stadium haben wir es als Befreiungsgeschichte bezeichnet. Mira ist eine sehr körperliche, vor allem eine sehr kontrollierte Figur. Sie steht nicht für eine Körperlichkeit, die es schafft, sich selbst Raum zu nehmen und auszubrechen, sondern die ihre Körperlichkeit benutzt, um sich einzupassen und um für andere eine Säule zu sein. Das führte auch zum Titel WENN WIR DIE REGELN BRECHEN. Uns hat die Frage beschäftigt, wie es möglich ist, die Erwartungen seitens der anderen zu brechen und zwar nicht, um in einem egoistischen Sinne mehr für sich zu beanspruchen, sondern um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie sehr ich für andere da sein kann, wenn ich gar nicht im Selbst bin. Das Miteinander ist ein wesentliches Thema im Film, ob es nun ums Team oder um die Familie geht.

 

Mit Konkurrenzkampf, Eifersucht, Zusammenhalt, Ausgrenzung u.ä. ist das Team ja ein gutes Abbild von Familie wie Gesellschaft.

CLARA STERN: Es ist zumindest ein Versuch, es so nachzuempfinden. Interessant ist, dass wir außer den beiden Hauptdarstellerinnen das Team nur mit echten Eishockeyspielerinnen besetzt haben, die durchaus wichtige Nebenrollen übernehmen. Es sind sehr unterschiedliche Frauen vom Alter und Background her, vielleicht nicht ganz so divers wie bei anderen Sportarten, weil beim Eishockey die Ausrüstung sehr teuer ist. Es braucht hier einen – oft familiären – Background, der finanziell unterstützt. Im Team, das wir zusammengestellt haben, befanden sich auch viele Mitglieder des Nationalteams. Selbst sie müssen sich die Ausrüstung selber zahlen.

 

Ein Umstand, der vielleicht bei den männlichen Teams nicht so gegeben ist.

CLARA STERN: Das ist ein Thema, das ich auf alle Fälle anzusprechen versuche. Die meisten der Spielerinnen gehen noch zur Schule, machen eine Ausbildung, manche arbeiten und können einfach nicht so viel trainieren. Man kann innerhalb des Damen-Eishockeysports eine spannende Dynamik wahrnehmen, weil unterschiedlich für eine Gleichstellung gekämpft wird. Das Argument, die Männer sind schneller und deshalb interessanter anzusehen, wird es immer geben. Das Männer-Hockey hat teils andere Regeln, es ist eine andere Art von Hockey. Das Team in sich ist ein gewisser Blick in die Gesellschaft, aber auch eine gewisse Position gegenüber der Gesellschaft.

 

Stand beim Casting der Spielerinnen eher ihre Funktion am Spielfeld im Vordergrund oder ihre Persönlichkeit außerhalb des Eishockey-Kontextes?

CLARA STERN: Ich habe sehr viel bei Spielen zugeschaut und kannte viele schon lange, da das Projekt sehr lange in Entwicklung war. Wir haben uns sogar mit der Idee getragen, für die Hauptfigur mit einer Hockeyspielerin zu besetzen. Ich habe also im Castingprozess für die Hauptrolle, sehr viele Hockeyspielerinnen kennengelernt und viele für die Nebenrollen im Gedächtnis behalten. Wir haben dennoch gemeinsam mit Lisa Oláh ein klassisches Casting abgehalten. Zuerst Improvisation, dann, als es sich herauskristallisiert hatte, haben wir auch Drehbuchszenen gespielt und darauf geachtet, ob eine Wiederholbarkeit von Szenen gegeben war. Wir haben auch in der Gruppe gecastet, es war sehr spannend, wie unterschiedlich Leute sich alleine oder in der Gruppe verhielten. Ich glaube, es ist mir auch gelungen, Leute, die gar nicht so laut wären, nun in den Vordergrund zu stellen.

 

Was führte letztlich zur Entscheidung, die beiden Hauptrollen doch mit Schauspieler*innen zu besetzen? Wie mussten sie sich vorbereiten?

CLARA STERN: Die Dreharbeiten waren ursprünglich früher geplant, wir hatten das Casting im November 2019 abgeschlossen. Ich wollte für die Hauptrolle eine Österreicherin und einen ostösterreichischen Dialekt, um es gut mit den Weinbergen in Einklang bringen zu können. Da muss man beim Drehen auch manchmal leichte Kompromisse hineinschleifen, vor allem wenn rund um die Hauptfigur eine ganze Familie zu besetzen ist. Alina Schaller ist ganz klassisch zum Casting gekommen, ich hatte sie aus dem Kurzfilm Voltage gekannt, den mein Kameramann Johannes Hoss gedreht hat. Irgendwann war klar, dass ich eine Hauptdarstellerin wollte, die vom Schauspiel kommt, weil Mira in jeder Szene des Films vorkommt. Ich möchte Geschichten erzählen, die wie ein Dominospiel funktionieren. Damit meine ich, dass das Ende der jeweiligen Szene die darauffolgende auslöst. Das erfordert ein sehr präzises Schauspiel, das sehr feine Nuancen und Steigerungen zum Ausdruck bringen kann und das Miras inneren Panzer und die vielen Dinge, die sie in sich trägt, aber nicht herzeigen kann, spürbar macht. Wir haben da in mehreren Runden Verschiedenstes ausprobiert, einerseits im Bezug auf Miras Innenleben, andererseits auch hinsichtlich der Kombinationen mit den anderen Darsteller*innen. Und Alina hat mich – bis heute – vollkommen von sich als Mira überzeugt. Alina Schaller und Judith Altenberger haben für ihre Rollen großen, persönlichen Einsatz gezeigt und begannen schon im Dezember 2019 mit dem Eislauf- und Hockeytraining und machten trotz Förderabsage Anfang 2020 bis März weiter, dann hat Corona das offizielle Training gestoppt. Als wir dann Mitte Jänner 2021 die Zusage bekommen haben, hat ein Kraft- und Ausdauertraining mit einer Diät für den Muskelaufbau begonnen. Das Schwierigste war, angesichts der Corona-Regelungen überhaupt eine Möglichkeit zum Training zu haben, da wir ja weder unter „Spitzensport“ noch unter „Theaterproben“ fielen. Dass Alina und Judith trotzdem für die kurze Zeit wahnsinnig viel gelernt haben, haben wir dem Ehrgeiz der beiden und unseren Eishockey-Coaches Christian und Sandra Klepp von den Vienna Sabres zu verdanken, die die beiden im Einzeltraining trainiert haben. Wir haben mit ihnen das Drehbuch in strategische Spielzüge umgewandelt und diese haben wir einstudiert wie eine Art Choreografie. Die Schauspielerinnen wurden zusätzlich durch Doubles ergänzt.

 

Was bedeutete das für die Kameraarbeit?

CLARA STERN: Wir haben uns in der Vorbereitung viele berühmte Eishockeyfilme angeschaut, die größtenteils aus Hollywood kommen. Da sind ganz andere Budgets auch für Kameratechnik im Spiel. Wir haben uns also überlegt, wie wir mit unseren Drehbedingungen einen Stil finden, der den Sport packend und spannend darstellt. Unsere Grundidee war, nahe an den Spielerinnen zu sein, auf dem Feld, mitten unter ihnen, direkt im Geschehen. Durch die Entwicklung der Kameras, die immer kleiner und leichter werden, war das mithilfe speziell angefertigter Dollys und einem Ice-Operator möglich. Einerseits haben wir die geplanten Spielzüge gedreht, andererseits haben wir dokumentarisches Material innerhalb der fiktiven Szenen gesammelt.

 

Im Kontext des Regel-Brechens scheint der Sport jene Sphäre zu sein, die nur durch Respektieren von Regeln funktionieren kann. Andere Bereiche wie die der Familie, der Freunde, der Sexualität lassen vieles offen. Wie sehr gibt es da verschiedene Ebenen des Brechens von Regeln?

CLARA STERN: Gender-Rollen sind für mich grundsätzlich ein sehr wichtiges Thema. Es geht mir sehr um die Erwartungen, die an uns als Frauen*, als Männer* gestellt werden, wie wir eingeteilt, bewertet werden, wie wir Verhalten und Gesten lernen und wie schnell wir nicht in Schubladen passen. Wie schnell kommt es, dass wir gar nicht hinterfragen, ob unser Verhalten gelernt ist oder ob es uns glücklich macht? Wie schnell glaubt man, nicht dazuzugehören, weil man das Gefühl hat, bestimmten Erwartungen nicht zu entsprechen? Da kommt ein stark persönliches Thema durch, weil auch ich in meiner persönlichen Entwicklung erlebt habe, in Geschlechterfragen nicht hundertprozentig Erwartungen zu entsprechen, aber glaubte, ihnen entsprechen zu müssen. Daher rührt dieses Grundthema des Regeln-Brechens. Ich sehe eine große Notwendigkeit, Regeln zu hinterfragen. Damit meine ich dezidiert nicht das Hinterfragen von Coronamaßnahmen, denn hier geht es um Regeln, die zum Schutz von uns und anderen sinnhaft sind. Solche Art Regeln meine ich nicht. Wir leben in einer Gesellschaft, die sehr brav folgt und oft gar nicht mehr die Kraft hat, bestimmte Dinge zu hinterfragen, weil man einer Flut von Informationen und Kräften ausgesetzt ist. Ich halte es für enorm wichtig zu hinterfragen, wie sinnvoll eine Regel ist und wem ich schade, wenn ich sie breche, damit man nicht in autoritäre Systeme hineinrutscht. Es geht mir nicht um das Brechen von Regeln im Sinne einer Selbstermächtigung, die auf Kosten von anderen geht, sondern es geht darum herauszufinden, was einen in einer Freiheit, die sozial gemeint ist, einschränkt.

 

Geht es in WENN WIR DIE REGELN BRECHEN auch um das Öffnen von neuen Denkräumen?

CLARA STERN: Es geht mir um ein „Sich-Wehren“ und ein „Nicht-alles-mit-sich-machen-Lassen“. Profi-Eishockeyspielerinnen würden jetzt vielleicht etwas anderes sagen; ich bin in meinen jahrelangen Beobachtungen dieses Sports zu dem Schluss gekommen, dass man, wenn man gewinnen will, die Regeln zwar nicht brechen, aber doch ausreizen und dehnen muss. Würden sich alle nur in vorgefertigten Bahnen bewegen, würde es kein Ergebnis geben. Das zu lernen, ist ein zentrales Thema für unsere Hauptfigur. Mir haben meine Eltern das Gefühl vermittelt, dass ich, wenn ich meine Sachen gut erledige, ein gutes Ergebnis rausschauen muss. Die Welt funktioniert aber nicht so. Das heißt jetzt nicht, dass jeder mit seinem egoistischen Traktor über alles drüberfahren soll, aber man muss austesten und darauf achten, was man selber braucht. Es ist leichter, für andere da zu sein, wenn man die eigenen Bedürfnisse nicht ignoriert.

 

Wie haben Sie diese erste Dreherfahrung einerseits unter sehr ungewöhnlichen physischen Bedingungen, vor allem aber auch in der menschlichen Zusammenarbeit erlebt?

CLARA STERN: Ob mit Team oder Schauspieler*innen, es war alles in allem eine großartige Erfahrung. Ich habe mit Leuten gearbeitet, die mir das Gefühl gaben, es besteht ein gemeinsames Interesse am Inhalt und den gesellschaftlichen Themen des Projekts. Die Unterstützung, die ich von der Geyrhalter Filmproduktion, insbesondere von Michael Kitzberger und Wolfgang Widerhofer im gesamten Entwicklungs- und Drehprozess erfahren habe, hat mich immer bestärkt, meiner Vision der Geschichte zu folgen. Ich denke, in der Geyrhalter Filmproduktion ist es ein Credo, dass die gute Zusammenarbeit ein wichtiger Faktor ist. Ich habe in unseren ersten Gesprächen den Wunsch geäußert, dass ich gerne mit dem Kameramann Johannes Hoss und dem Editor Matthias Writze, die mich durch mein Studium an der Filmakademie begleitet haben, arbeiten wollte. Das war möglich. Die Arbeit mit den Schauspieler*innen konnten wir sehr gut vorbereiten, weil wir so lange im Voraus wussten, dass wir zusammenarbeiten würden. Wir konnten eine sehr offene und ehrliche Beziehung zueinander entwickeln. Das heißt nicht, dass es nicht auch Tage gegeben hat, an denen ich an meine Grenzen gestoßen bin und wirklich erschöpft war. Aber alle im Team haben mir das Gefühl gegeben, gerne am Set zu sein und das hat mir viel Kraft gegeben. Wir haben sehr viel im Haus der Familie gedreht, das sich in der Nähe von Bruck an der Leitha befand. Fast zwei Wochen Dreh fanden in der Umkleidekabine statt, das war körperlich eine größere Herausforderung als man denkt, denn es ist dort sehr eng und laut. In der Eishalle zu filmen war wie im Winter Outdoor zu filmen, weil es so kalt war, dass wir alle Schikleidung getragen haben. Es war eine Mischung aus „Wir sind völlig verrückt“ und dem Gefühl, dass es sehr schön ist, verrückt zu sein.

 

Interview: Karin Schiefer

Juli 2021