Im Gespräch mit Rebecca Hirneise
„Ich habe Religion immer als zwischenmenschliches Konstrukt wahrgenommen.“
Es war alles andere als ein leichter Schritt für Rebecca Hirneise, mit über dreißig ihren Tanten und Onkeln beizubringen, dass sie deren Glauben an einen christlichen Gott nicht teilt. In ihrer hauptsächlich methodistisch geprägten Familie ist man religiös, manchmal entspannt oder kritisch, oft verbissen oder fanatisch. Für die Filmemacherin ein Anlass, auf Distanz zu gehen, auch geografisch. Die Erkrankung ihrer Großeltern hat sie nun zum Anlass genommen, sich in ihrem Dokumentarfilmdebut FUNKSTILLE ihrer Familie wieder zu nähern, nicht nur, um sie in Gesprächsrunden zur Auslegung ihres Glaubens vor der Kamera zu vereinen, sondern auch, um ein Licht auf die nicht so häufig mit der christlichen Religion verbundenen vielschichtigen, mitunter recht fundamentalen Sichtweisen auf den Glauben zu werfen.
Ihr Dokumentarfilm FUNKSTILLE setzt sich mit der besonders intensiv gelebten Religiosität in Ihrer Familie auseinander. Wie kann man diese Religiosität kurz beschreiben?
REBECCA HIRNEISE: Da beginnt schon eine der Schwierigkeiten, denen sich dieser Film stellen muss. Es soll im Film nicht um ein Portrait einer speziellen Konfession gehen. Das Ausleben des Glaubens ist sehr individuell in meiner Familie. Der Großteil ist evangelisch-methodistischen Ursprungs, so wie ich. Durch die jeweiligen Ehepartner*innen hat sich das Spektrum aber auf das weitere Christentum ausgeweitet. Ich war vor kurzem bei einem meiner Onkel, der kontinuierlich mit Gott in Kontakt ist und sogar einen Timer bei sich trägt, der ihn an das Beten erinnert. Seine Frau hingegen lebt ihren Glauben ganz anders. Alle sind auf ihre Weise gläubig und es entstehen jede Menge zwischenmenschliche Probleme dabei.
Schaut man auf Ihre Biografie, so sind Sie religiös aufgewachsen, haben als Erwachsene inhaltlich wie geografisch Distanz eingenommen und bewegen sich über dieses Filmprojekt wieder hin zur Familie, um sie mit ihrer Religiosität zu konfrontieren. Lässt man dieses Thema nicht so leicht hinter sich?
REBECCA HIRNEISE: Ich kann da nur für mich sprechen. Auch wenn ich mich mit anderen Inhalten beschäftige, tauchen Religion und der Versuch, Glauben auch in anderen Glaubensgemeinschaften zu verstehen, als wiederkehrende Fragestellungen auf. Vielleicht auch deshalb, weil ich noch nie gläubig war. Ich habe Religion immer als zwischenmenschliches Konstrukt wahrgenommen. Religion war für mich vor allem etwas, das Konflikte ausgelöst hat. Die Bibel habe ich als abstraktes Regelwerk wahrgenommen.
Im Zuge meiner Arbeit komme ich darauf, dass viele Menschen wirklich und wörtlich daran glauben. Ehrlich gesagt hat mich das ein wenig überrascht. Ich realisiere gerade, wie mystisch das auch in manchen Bereichen werden kann. Mir war wichtig, nach Deutschland zurückzugehen und meine Verwandten einzuladen, darüber zu reden. Denn eigentlich habe ich vor diesem Filmprojekt hauptsächlich Distanz zu ihnen gesucht.
FUNKSTILLE ist Ihr erster abendfüllender Dokumentarfilm. Wie lange hadert man mit der Frage, ob man sich für das Langfilmdebüt auf die Unwägbarkeit der eigenen Familie einlassen soll?
REBECCA HIRNEISE: Der Film hat sich ein bisschen eingeschlichen. Auslöser war der Umstand, dass meine Großeltern pflegebedürftig geworden sind, weil sie an Demenz erkrankten. Für mich ein Anlass, sie öfter zu besuchen. Sie waren früher sehr ernsthaft und verbissen, alles war so steif und alles drehte sich nur um Gott. Nun waren sie aber plötzlich ganz aufgekratzt und lebendig, machten Witze und waren sehr lieb zueinander. Über Religion sprachen sie nicht mehr wirklich, gebetet wurde auch nur noch, wenn ein Besuch sie daran erinnerte. Meine Onkel und Tanten waren gleichzeitig völlig zerstritten und redeten nicht mehr miteinander. Das hat mich sehr neugierig gemacht. Ich stand nicht vor der großen Frage, was nun wohl mein Debütfilm sein könnte, ich habe eine einschneidende Veränderung im Leben meiner Großeltern wahrgenommen und die hat mich veranlasst, dieser Veränderung filmisch nachzugehen. Vor allem, weil sie etwas – die Religion – plötzlich völlig vergessen haben, um das sie ihr ganzes Leben lang gekämpft hatten. Langsam hat sich dann herausgestellt, dass es wohl mein Debütfilm werden sollte.
Auf welche Aspekte haben Sie Ihre Recherche fokussiert?
REBECCA HIRNEISE: In der ersten Zeit war ich sehr damit beschäftigt, genauer herauszuarbeiten, was ich erzählen will und zu einer Form zu finden. Mit jedem*r Protagonisten*in kam neues Material hinzu und eine individuelle Sicht auf Religion. Ich habe mir Bücher aus ihren Regalen geliehen, Briefe und Geschichten gesammelt und auch versucht, meine eigenen Erinnerungen, Film- und Tonaufnahmen, Notizen etc. aufzuarbeiten. Es war wichtig niederzuschreiben, zu sortieren und zu sammeln, was bereits vorhanden war. Ich habe viel in der Bibel gelesen, Stellen markiert, die ich nicht mag (oder mag) und mich mit dem Evolutionsbiologen und Religionskritiker Richard Dawkins beruhigt, wenn mir alles zu viel wurde. Erst nachdem ich einen groben Überblick über die Familie hatte, fing ich an, mir gezielt Informationen von außen zu beschaffen.
Wie haben Sie zur Form des Films gefunden?
REBECCA HIRNEISE: Durch Probieren und viel Reden. Einen Film macht man ja generell nicht allein. Vor allem bei einem so persönlichen Projekt war und ist es enorm wichtig, einen Blick von außen zu bekommen. Der Dramaturg Philipp Diettrich, der Kameramann Tilmann Rödiger, der Editor Florian Kecht und auch unsere Produzentin Ruth Beckermann geben mir diesen Blick immer wieder. Das ist toll.
Vieles habe ich auf einer textlichen Ebene erarbeitet. Notizen, Mails und Briefe, die wir lesen. Eine weitere wichtige Frage war, wie ich selbst im Film vorkommen soll. Wir haben festgestellt, dass es für diesen Film sehr wichtig ist, auch meinen eigenen Prozess als Nicht-Gläubige spürbar zu machen, also mich auch selbst im Film zu sehen. Und ich nehme an, dass ich der rote Faden durch das gesammelte Material sein muss. Aber ja, innerhalb einer Familie ändert sich ja auch ständig alles, so muss auch der Film und dessen Form bis zur Fertigstellung beweglich bleiben.
Wie standen die Familienmitglieder zum Filmprojekt?
REBECCA HIRNEISE: Viele waren skeptisch, weil der Glaube so persönlich ist, und es kam auch der Einwand, dass ich nicht neutral sei, als bekannt geworden war, dass ich nicht an Gott glaube. Die grundsätzliche Frage ist natürlich: Wer ist denn überhaupt neutral? Wer müsste eigentlich nun kommen, um den Film zu machen? Es gab die unterschiedlichsten Ausreden, warum das keine gute Idee sei. Prinzipiell war es aber so, wenn sich jemand bereiterklärt hat, dann konnte ich auch filmen.
Es gab natürlich auch den Austausch der Familienmitglieder untereinander. Es war ein ständiges Sondieren, was zwischen ihnen gerade ablief, denn das änderte sich permanent. Dazu kommt, dass es sich um Geschwister handelt, also ein großes Konfliktpotenzial gegeben ist, weil ihr Verhältnis untereinander durch die unterschiedlichen Religiositäten sehr belastet ist. Durch meine jahrelange, familiäre Distanz kannte ich viele Familienmitglieder kaum. Es mag sich seltsam anhören, aber ich hatte richtig Angst, das Thema anzugehen. Es war kein einfacher Schritt, auf sie zuzugehen und von meinem Vorhaben, sie zu filmen, zu sprechen. Ganz zu schweigen davon, ihnen mitzuteilen, dass ich nicht gläubig bin. Im Umfeld, in dem ich erzogen worden bin, ist das eigentlich ein No-Go.
Wie haben Sie einen Weg gefunden, einerseits eine subjektiv künstlerische Position zu vertreten und gleichzeitig ihren Platz als Familienmitglied einzunehmen?
REBECCA HIRNEISE: Das ist bis heute schwierig, auch wenn ich jetzt schon besser damit klarkomme. Man bringt die Öffentlichkeit in den Familien-Raum. Am Anfang habe ich die Kamera wie eine Waffe empfunden, die man gegen die Familie richtet. Ich komme ja nicht ohne Kritik. Es gibt einfach Ansätze, mit denen ich meine Schwierigkeiten habe, wie zum Beispiel das Gesundbeten, aber ich möchte natürlich niemandem den persönlichen Glauben absprechen. Ich habe dazu meine Meinung, kann aber gleichzeitig nicht behaupten, diese sei richtig, da ich es ja auch nicht wissen kann. Umgekehrt tun sich meine Verwandten aber auch mit mir schwer. Es ist alles andere als einfach, einen Film über die eigene Familie zu machen!
Erstaunlicherweise waren die meisten meiner Familienangehörigen in Bezug auf die Kamera sehr viel unerschrockener als ich. Da wir meist in einem sehr kleinen Team arbeiten, ist es auch einfacher, denke ich, zwischen Familienmitglied und Filmemacherin zu wechseln. Einerseits ist das toll, weil ein sehr intimes Filmen in einem kleinen Kreis möglicht ist, andererseits muss man mehr selbst machen und wir arbeiten oft bis spät in die Nacht hinein. Außerdem wird man jedes Mal in eine Welt hineingeworfen, aus der man sich wieder herauslösen muss. Es ist jedes Mal ein Kraftakt in alle Richtungen, dem man sich da aussetzt, aber enorm spannend und überraschend.
Wie haben Sie die Konstellationen für die Gespräche zusammengestellt?
REBECCA HIRNEISE: Es gab abseits dieses Filmprojekts einen Moment, wo meine Tanten und Onkel aufgrund von Konflikten wegen der Pflege meiner Großeltern, aufgehört haben, miteinander zu reden. Das war ein Punkt der totalen Funkstille. Wir, Cousinen und Cousins, sind zu dem Schluss gekommen, dass wir die Generation unserer Onkel und Tanten in einem Raum zusammenbringen mussten, damit sie wieder miteinander reden. Bei diesem Anlass entstand die Idee, sie alle in einen Raum zu setzen, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Da meine Großeltern aus meiner Perspektive der Ursprung der Geschichte sind, war für mich bald klar, dass deren Kinder mit ihren Ehepartner*innen zu den Gesprächsrunden kommen sollen. Meine Großeltern waren dazu ja nicht mehr in der Lage.
Wie kommen die Gespräche innerhalb der Runde in Gang?
REBECCA HIRNEISE: Als ersten Schritt habe ich allen meinen Plan mitgeteilt; das hat viele überfordert und die meisten sagten ab. Ich habe dennoch verkündet, dass ich auf alle Fälle zum besagten Termin mit der Kamera da sein und mich freuen würde, wenn jemand käme. Und siehe da – wir waren elf. Aus Angst haben sie jedoch noch außenstehende Leute wie z.B. den Pfarrer dazu eingeladen, aber ein Anfang war mal gemacht. So hat es begonnen. Es war ein Herantasten und es wurde sehr viel um den heißen Brei geredet. Auch von mir, denn meine Tanten und Onkel sind so lange Zeit Autoritätspersonen gewesen, denen man nicht widerspricht. Es wird aber ein Film sein, der nicht nur aus diesem Gesprächsraum besteht. Ich sammle auf verschiedenen Ebenen Material, wie beispielsweise Gespräche mit Einzelpersonen, Beobachtungen im Alltag oder Archivmaterial von meinem Großvater, der ein begeisterter Amateurfilmer gewesen ist. Diese Filme gehe ich gerade durch und filme sie ab. Er hat wirklich tolle Filme gemacht. Als Kind und Jugendliche habe ich nicht wahrgenommen, wie schön diese Arbeiten waren. Briefe möchte ich vorlesen lassen, außerdem möchte ich gerne dabei sein, wenn sie ihren christlichen Glauben konkret ausleben. Es ist wichtig, eine visuelle Ebene zu finden, aber Sprache wird eine große Rolle spielen. Ohne Sprache ist es nicht möglich, sich zum Glauben zu äußern.
Sie selbst sind nicht gläubig, Sie haben sich bewusst von der Familie und ihrer strengen Auslegung von Religion distanziert. Gibt es Facetten dieser Religiosität, mit denen Sie überhaupt nicht umgehen können?
REBECCA HIRNEISE: Ja, die gibt es. Der Hang zum Missionieren beispielsweise, der den meisten zwischenmenschlichen Problemen zu Grunde liegt, oder Heilungen und Dämonenaustreibungen. Nicht alle meine Verwandten glauben gleich stark an diese Dinge. Ein Teil praktiziert das offen, ein Teil weniger offen und andere kritisieren das auch. Heilungen und Dämonenaustreibungen ziehen für mich sehr harte Grenzen auf, wo ich nicht genau weiß, wie ich reagieren soll. Ich will es nicht in Frage stellen, ihnen nicht erklären, dass sie aus meiner Sicht falsch liegen. Ich kann es ja nicht beweisen und möchte sie auch nicht umerziehen. Dennoch finde ich es gefährlich, seine Gesundheit in „Gottes“ Hände zu legen und empfinde es als anstrengend, wenn man mich bekehren will. Das Schwierige ist, dass ich Dinge betrachten möchte und mich gleichzeitig dazu verhalten muss. Wenn ich interessiert nachfrage, werde ich oft missverstanden. Viele denken schnell, dass ich mich doch bekehren lassen will.
Bleiben Sie in dieser filmischen Arbeit ganz im familiären Kontext? Ist es Ihnen auch ein Anliegen, die gesellschaftliche Dimension dieses Phänomens einer fundamentalen christlichen Religionsauslegung deutlich zu machen?
REBECCA HIRNEISE: Unbedingt. Ich hoffe ja geradezu, dass sich die Diversität, die innerhalb dieser kleinen Familie herrscht, beim Schauen des Films auf das weite Christentum oder andere Religionen übertragen lässt. In meiner Familie sind ja alle konkret methodistisch erzogen worden und haben sich dann so unterschiedlichen Ausprägungen und Richtungen von Religion zugewandt. Ich will meine Beobachtungen nicht auf den Methodismus reduzieren, da es nicht nur diese Gruppe betrifft. Es liegt darin nur der Ursprung meines Filmprojekts, da meine Großeltern methodistisch lebten und durch ein ganz starkes, strenges und enges Bild von Religion andere geprägt haben. Allein schon meine Großeltern haben ihre Religion wieder ganz konträr ausgelegt. Sie haben aber krampfhaft versucht, ihren Kindern und auch Enkelkindern Werte zu vermitteln, die sie selber nicht aufrichtig erklären konnten. Es war einfach so und so hatte es zu sein. Diese Strenge hat vermutlich dazu geführt, dass „Religion“ für alle Familienmitglieder bei uns so ein Riesenthema geworden ist. Meine Bekannten schütteln den Kopf und es ist ja in der Tat absurd, dass ich mich erst mit Mitte dreißig sagen traue, dass ich nicht gläubig bin.
Wie sieht zur Halbzeit Ihre Bilanz aus? Hat die Arbeit am Film Ihr Verständnis für Ihre Familie erweitert?
REBECCA HIRNEISE: Natürlich, das passiert automatisch, wenn man sich damit beschäftigt. Es versucht ja auch nur jede*r auf ihre* oder seine* Weise mit der Welt klarzukommen. Ich verstehe schon den Sinn hinter dem Glauben, aber ich ärgere mich eben über die zwischenmenschlichen Probleme, die damit einhergehen. Und auch wenn mich das „Magische“ im Leben meiner Verwandten so überrascht, denke ich mir mittlerweile, dass man sich ja schon beim Lesen der Bibel eingestehen muss, dass da sehr viele magische Dinge passieren. Wenn man daran glaubt, kann es ja nur mystisch werden. Moses hat einen Zauberstab, eine Jungfrau kann ein Kind empfangen oder ein anderer kann von den Toten auferstehen – allein die Basics des christlichen Glaubens sind voll mit Magie. Man würde aber die christliche Religion nicht von Vornherein mit einem Begriff wie „mystisch“ oder „magisch“ assoziieren, sie gilt doch eher als eine von der Vernunft getragene Religion. Ich finde es richtig spannend, immer mehr über die Logik herauszufinden, die hinter den verschiedenen Ausführungen von Glauben steckt und gleichzeitig begründete Kritik im Kopf zu haben. Mit diesen beiden Seiten umzugehen, das lerne ich gerade. Wenn man aber mittendrin ist und beide Seiten so auf einen einprallen, kennt man sich irgendwann nicht mehr aus. Deshalb muss ich mich jedes Mal, wenn ich zurückkomme, erstmal wieder erden. Ich gelange immer wieder an einen Punkt, wo ich mich neu orientieren muss, weil ich so tief drinnen stecke.
Interview: Karin Schiefer
August 2022