© Paula Faraco

 

MEERJUNGFRAUEN WEINEN NICHT

 

Nein zu sagen hat Annika nicht gelernt und ihre kleine schmucke Wohnung platzt bald aus allen Nähten, vor lauter Menschen, die das auszunutzen wissen. Sie hat aber entdeckt, wie sie sich ihrem beengten Alltag entziehen kann: In ihrer Meerjungfrauenflosse taucht sie ab im städtischen Bad und lässt alle(s) hinter sich. Franziska Pflaum hat in MEERJUNGFRAUEN WEINEN NICHT einen Stadtrandkosmos ohne Tristesse geschaffen, in dem sich trotz Misere keine*r geschlagen gibt.

 

Ihre ersten beiden mittellangen Filme sind ganz und gar im Milieu der Adoleszenz angesiedelt. Von welchen Ideen haben Sie sich nun für Ihren ersten Langspielfilm leiten lassen? Stand da eher das Genre oder eher eine Thematik im Vordergrund?

FRANZISKA PFLAUM: Inspiriert wurde ich von einem Besuch in einem Berliner Schwimmbad. Dort habe ich das „Mermaiding“ – dieses Schwimmen wie eine Meerjungfrau, wie es im Film vorkommt –  entdeckt. Erwachsene Frauen haben sich geschminkt und sich Flossen über die Beine gezogen, um als Meerjungfrauen durchs Wasser zu tauchen. Das fand ich deshalb so spannend, weil Mermaiding für mich zwei gegensätzliche Pole verbindet.
Einerseits ist da der Mythos der Meereswesen, den es schon seit Jahrtausenden gibt. Meerjungfrauen entstammen einer Welt, die dem Menschen fremd ist. Sie können gefährlich, verführerisch oder auch verdammt sein, aber in jedem Fall sind sie durch ihre Andersartigkeit geheimnisvoll und repräsentieren eine tief im Menschen verankerte Sehnsucht nach dem Unbekannten. Andererseits gibt es jetzt „Mermaiding“, eine Trendsportart, bei der all diese alten Mythen zusammengewürfelt  werden und es letztlich darum geht, sich selbst als das fremde Wesen zu inszenieren. Eine wesentliche Rolle spielen hier auch soziale Medien, in denen sich die Akteur*innen nach gelungener Transformation der Welt präsentieren. Für mich ist das eine sehr gute Analogie zu unserer Zeit. Wir sehnen uns eigentlich nach etwas Fremden, das geheimnisvoll ist, vielleicht gefährlich sein könnte – etwas ganz Besonderem mit Seltenheitswert. Aber anstatt es im Verborgenen zu belassen, zerren wir es an die Oberfläche und kommerzialisieren es, bis eben ganz und gar nichts Besonderes mehr übrig ist und sich dieses Etwas am Ende in eine Ware verwandelt. Jedenfalls hat mich diese Beobachtung gefesselt und in einer guten Woche hatte ich ein Treatment entworfen, das zwar noch nicht Hand und Fuß hatte, aber den Grundstein für den trashigen Tonfall des Buchs gelegt hatte und die ersten Figuren und Bausteine beinhaltete.

 

Die Geschichte scheint in mehrfacher Hinsicht mit Gegensätzen zu spielen – das Tragikomische, die Märchenwelt der Meerjungfrau und der Realismus der Lebensumstände der Protagonist*innen. Ist es eine der Grundideen der Geschichte, dass sie sich mäandernd zwischen gegensätzlichen Welten bewegt?

FRANZISKA PFLAUM:  Ja auf jeden Fall, es soll ein verträumter, lustiger, tragischer, schriller, aber auch ernsthafter Film werden. Wie das Leben halt.  Die Dinge haben eine große Gleichzeitigkeit. Je nachdem aus welchem Blickwinkel wir die Welt betrachten, eröffnen sich uns die verschiedenen Aspekte des Lebens. Es gibt Menschen, da denke ich mir erstmal, den oder die verstehe ich nicht. Warum handelt er oder sie so? Ich möchte die Beweggründe erfahrbar machen und hinter die Kulissen schauen. Das ist es, was mich umtreibt: Ein Blick jenseits der Kategorien Gut und Böse.

 

Meerjungfrauen sind in der Märchen- und Sagenwelt auch Wesen, die (durch die Liebe eines Mannes) erlöst werden wollen.  Wie kommt dieser Aspekt mit der Figur der Annika, die so eine gute Seele ist, zusammen?

FRANZISKA PFLAUM: Annika wird definitiv nicht durch die Liebe eines Mannes erlöst. Sie erlöst sich selbst. Das Buch heißt MEERJUNGFRAUEN WEINEN NICHT, weil für mich jede einzelne Figur eine Meerjungfrau ist, die mit unheimlichem Mut für sich selbst einsteht, anstatt am Leben zu zerbrechen. Meine Meerjungfrauen weinen eben nicht, sondern setzen sich letztlich durch und gehen ihren Weg – auch wenn sie sich teils wirklich skurrile Dinge einfallen lassen, um ihren Träumen näher zu kommen.
Annika hat ein Abgrenzungsproblem. Sie setzt sich ständig für andere ein und vergisst dabei ihre eigenen Bedürfnisse. Mir ist es wichtig festzuhalten, dass Annika dabei letztlich kein Opfer der anderen ist. Sie lässt sich ja ausbeuten und schlecht behandeln, weil sie aus ihrer persönlichen Geschichte heraus einer Strategie folgt, mit der sie bisher gut durchgekommen ist. Nun ist es an der Zeit, dass sie erkennt, dass ihr Verhalten sie langfristig schwächt und schädigt.
Wie so oft im Leben muss es zuvor zu einem Punkt kommen, wo es nicht mehr geht.

 

Annika bewegt sich zwischen ihrer Wohnung, ihrer Arbeit im Supermarkt und dem Schwimmbad. Innerhalb dieser Orte entsteht ihr Universum mit mehreren Figuren, die sich auf ihr Dasein pfropfen. Wer spielt da eine wesentliche Rolle?

FRANZISKA PFLAUM: Annika hat eine kleine schöne Wohnung in der Rennbahnsiedlung, die sie von ihrer Mutter übernommen hat. Diese Wohnung ist ihr Rückzugsort, aber wie schon gesagt, kann sie sich schwer abgrenzen. Annikas Vater, Hermann sitzt eines Tages im Rollstuhl vor Annikas Wohnungstür und erklärt, dass ihn seine Ex rausgeschmissen hat und er bei ihr einziehen möchte. Annika schafft es nicht, ihn abzuwimmeln. Körperlich beeinträchtigt ist Hermann in Wirklichkeit nicht: Der Rollstuhl ist nur eine Masche von ihm, um Sozialleistungen vom Staat abzucashen. Und obwohl Annika und Hermann ganz genau wissen, dass Hermann nicht im Rollstuhl sitzen müsste, lässt er sich dennoch von früh bis spät von seiner Tochter bedienen. Karo, Annikas Kollegin aus dem Supermarkt, ist eine junge hübsche Mutter, die sich lieber mit Männern triff, die ihr eine bessere Zukunft ermöglichen sollen, anstatt sich um ihre Kinder zu kümmern. Sie rudert von einem gescheiterten Beziehungsversuch zum nächsten und Annika muss sich in der Zwischenzeit um Jackie und Niki kümmern. Da sie in ihrer Kindheit selbst mit der Abwesenheit ihrer schönen, jungen Mama zu kämpfen hatte, erkennt sie sich in der zwölfjährigen Jackie wieder, die sehr darunter leidet, dass Karo sie vernachlässigt. Dann ist da noch Marc, in den sich Annika verliebt. Erst später findet sie heraus, dass auch er auf Wohnungssuche ist und auch er wird bei Annika einziehen. Das ist der Kosmos meiner Meerjungfrauen, die so tapfer um das Recht auf Schönheit und Würde in ihrem Leben kämpfen.

 

Mit Stefanie Reinsperger und Julia Franz Richter haben Sie zwei starke Schauspielerinnen engagiert. Sie haben mit Geschichten eines Jungen, einer Frau und eines Soldaten einen Kurzfilm gedreht, in dem die Erarbeitung der Handlung Thema des Films ist. Wie früh binden Sie Ihre Schauspieler*innen ein und erarbeiten gemeinsam die Geschichte?

FRANZISKA PFLAUM: Im angesprochenen Film gab es am Anfang gar keine Geschichte, sondern die Schauspieler*innen hatten am Papier nur ihre Rollenkonzepte, die sie in den gemeinsamen Sitzungen begannen, auszuformulieren und aus dieser gemeinsamen Arbeit ist dann das Drehbuch entstanden. Wenn ich könnte, würde ich nur mit dieser Technik arbeiten. Wenn man die Figuren ihre eigenen Geschichten erzählen lässt, kommt man an Blickwinkel heran, die man sich alleine am Computer schwer ausdenken kann. Sie sprengen die eigene Vorstellungskraft und das ist erfrischend und schön. Leider ist es recht schwierig einen solchen Prozess zu finanzieren, weil die Förderwege in sehr klar abgesteckten Bahnen laufen und vorsehen, dass erstmal ein Drehbuch erarbeitet wird, an dem sich ablesen lässt, wofür das weitere Geld freigegeben werden soll.
Deshalb gab es bei meinem ersten Kinofilm schon ein klassisches Drehbuch, ehe die Schauspieler*innen angefragt wurden. Ein Teil meiner Schauspielarbeit liegt darin, eine breite Hintergrundgeschichte gemeinsam zu entwickeln. Wir setzen uns hin und sprechen viel über die Figur, manchmal zu zweit. Noch lieber setze ich die Figuren gemeinsam zusammen: Jeder geht in seine Rolle und versucht, sich in improvisierten Gesprächen Hintergrundgeschichten auszudenken. Es geht mir darum, dass sich alle ganze Welten hinter dem Buch bauen, auf die jeder zurückgreifen kann, weil man sie gemeinsam erschaffen hat. Ich habe das Gefühl, dass es den Schauspieler*innen die Welt baut, aus der sie dann agieren können, weil sie diese Figuren einfach sind. So können sie am Set dann sehr viel selber entscheiden, auch weg vom Buch gehen, Textteile anders sagen, ersetzen, improvisieren. Es macht mir Spaß loszulassen und etwas Frisches und Unmittelbares hineinzulassen.

 

Es gibt im Film Traum- und Unterwasserwelten, ein Zusammenspiel von realistischen und künstlichen Elementen. Welche Lösungen haben Sie für die Darstellungen dieser Traumwelten angedacht?

FRANZISKA PFLAUM: Die Unterwasserwelten träumt sich Annika zusammen, es sind Tagträume. Annika träumt von der perfekten Meerjungfrauenflosse, die sie sich nicht leisten kann und jagt ihr hinterher.  Ich habe in Zusammenarbeit  mit den anderen Departments über die Umsetzung viel nachgedacht. Jetzt sind wir an einem Punkt, der mir sehr gut gefällt: Nämlich, dass wir die Weiten des Meeres kulissenhaft mit Vorder- und Hintergründen darstellen, die wie im Theater wirken. Diese Traumwelten haben somit auch etwas Begrenztes. Annika träumt von der Weite und dieser Traum ist dennoch klaustrophobisch. Der Himmel ist nie der Himmel, sondern nur ein Vorsetzer. Erst am Ende des Films steht Annika wirklich das erste Mal vor dem Meer. Es ist zwar nicht so kitschig schön, wie sie es sich zusammengeträumt hatte, es ist aber tief bewegend für sie. Sie hat dann eine einfache Weite in sich selbst gefunden.

 

Wie sehen Ihre visuellen Vorstellungen für die Darstellung dieser konträren Welten aus?

FRANZISKA PFLAUM: Wir wollen auf jeden Fall Farbe zulassen. Dazu gibt es Vorbilder, das wichtigste ist gewiss American Honey von Andrea Arnold, die mit einer sehr bewegten Handkamera arbeitet und fast dokumentarisch, auf jeden Fall sehr authentisch wirkt. Es ist eine sehr unmittelbare Kamera, die nie mehr weiß als die Zuschauer*innen. In gewisser Weise stolpert sie den Figuren hinterher, das heißt nicht, dass es eine Wackelkamera gibt, aber wir verfolgen das Geschehen. Wir sind mit Annika, die uns die Geschichte offenbart, immer auf gleicher Höhe und wissen nie mehr als sie. Wir folgen der Geschichte und lenken sie nicht. Farben sind erlaubt in einem sehr klaren Farbkonzept, das etwas Wildes und Lebensbejahendes hat. Wir wollen in keiner Weise das triste Bild des Sozialrealismus bedienen, sind uns aber bewusst, dass es Berührungspunkte mit einem Genre gibt, aus dem wir aber ausbrechen wollen. Ich habe den Eindruck, dass man in Österreich ein bestimmtes Bild von sozialer Misere hat. Da gibt es in Deutschland schon andere Beispiele, ich denke an Andreas Dresens Sommer vorm Balkon, der übrigens auch in Potsdam studiert hat. Ich finde, er geht mit einem großen Respekt und einer Schönheit an seine Figuren heran. Es gibt weder einen Blick von oben noch etwas wie Grind, sondern eine starke Lebensbejahung. Ich komme auch aus der HFF Potsdam, also von einer „Ostschule“ und die schwingt mit.

 

Welche Herausforderungen stellen die Meerjungfrauflossen ans Kostüm?

Franziska Pflaum: Da sind wir gerade mittendrin. Der Maskenbildner Tom Mayer ist gerade dabei, selbst eine Flosse zu bauen.  In seinem Studio ist alles voller kleiner Schuppen aus Silikon, die dann mit Pigmenten versetzt werden, die in allen Farben schimmern. Sehr aufwändig. Das Ding ist schwer, soll aber auch schwimmen können und dann müssen wir es uns auch leisten können. Stefanie Reinsperger nimmt jetzt schon Apnoe- und Mermaiding-Unterricht. Sie wird mit einer Flosse, die mehrere Kilo schwer ist und noch eine Corsage hat, in die sie zuerst mal hineingefrickelt werden muss, in einigen Metern Tiefe Wasser schwimmen. Für unser eher kleines Projekt steht da schon ein enormer Aufwand dahinter. Es arbeiten alle Departments von Kamera, Kostüm, Szenografie und Maske eng zusammen, weil es eine Gemeinschaftsarbeit werden muss, um im kleinen Kostenrahmen das Beste rauszukriegen.

 

Interview: Karin Schiefer

April 2021