Allein in ihrem Namen vereint die in Peking geborene, seit ihrer Kindheit in Wien lebende Filmemacherin Weina Zhao die beiden Kulturen, die sie seit jeher prägen. Die chinesische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts hat in den Familien ihrer Eltern, deren soziale Wurzeln unterschiedlicher nicht sein könnten, tiefe Spuren hinterlassen, die manchmal durch Schweigen, manchmal durch viel Reden verschüttet geblieben sind.  Gemeinsam mit Ko-Regisseurin und Kamerafrau Judith Benedikt möchte die Filmemacherin in Weiyena – ein Heimatfilm an der familiären Oberfläche kratzen, endlich die Fragen stellen, denen die Generationen vor ihr ausgewichen sind und auch ihren Urgroßvater, einen Pionier des chinesischen Kinos, in Erinnerung zu rufen.

Weina Zhao, Sie planen für Weiyena – ein Heimatfilm das Portrait Ihrer Familie –  einer Familie, in der sehr viel durch Schweigen, unbeantwortete Fragen, Distanz geprägt ist. Der Film entsteht in Ko-Regie mit Judith Benedikt. War es Ihnen bei dieser Innenschau auf die eigene Familie von Beginn an ein Wunsch, auch einen Blick von außen zu haben. Einen Blick von außen in inhaltlicher wie auch in visueller Hinsicht , insofern als Judith auch die Kamerafrau ist.

WEINA ZHAO: Ich habe dieses Projekt ursprünglich nicht als ein Konzept von Innen- und Außensicht entworfen. Wir beide kennen uns schon sehr gut durch die Zusammenarbeit bei Judiths letztem Film China Reverse, für den ich die Regieassistenz gemacht habe und der auch eine thematische Nähe zu meinem hat. Da ich selbst keine filmische Ausbildung absolviert habe, brauchte ich außerdem jemanden mit filmischer Erfahrung. Wie sehr die Beziehungen in unserer Familie durch Schweigen und offene Fragen geprägt ist, ist mir eigentlich erst im Laufe von vier Jahren Recherche bewusst geworden. Das war keineswegs der Anstoß. Daher ist mir auch die Notwendigkeit einer Außensicht zur Innensicht erst im Laufe der Zeit bewusst geworden. Die Idee zum Film geht vielmehr darauf zurück, dass ich meinem Großvater mütterlicherseits so gerne beim Erzählen zugehört habe. Ich hatte anfangs das Gefühl, dass in meiner Familie mütterlicherseits sehr viel gesprochen wurde, bis Judith mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass ich Teil des transgenerationalen Traumas sei und mir gar nicht bewusst war, wie viel hinter dem Gerede geschwiegen wurde und wie viele Fragen unbeantwortet blieben. Mit dieser Erkenntnis wurde ein zweiter Blick umso notwendiger. Alleine diesen Film zu machen, wäre auch emotional schwierig gewesen.

Judith Benedikt, Sie haben mit China Reverse Ihren ersten Dokumentarfilm über die chinesische Community in Wien realisiert. Woher rührt Ihre Affinität zu Asien? Wie hat dieses Projekt Sie beide zusammengeführt?

JUDITH BENEDIKT: Ich habe zuvor schon in Hana, dul, sed von Brigitte Weich, der in Nordkorea gedreht wurde, die Kamera gemacht. Die Reisen nach Nordkorea haben immer über Peking geführt und es begann eine Sensibilisierung für diesen Kontinent. Ich habe zu dieser Zeit auch in Wien im vierten Bezirk gewohnt, wo sehr viele Chines*innen leben, und begann mich für deren Geschichten zu interessieren. Ich brauchte damals jemanden, der übersetzen konnte und ein filmisches Verständnis für meine Art von Dokumentarfilm hatte, was alles andere als einfach war. Es war ein Glücksfall, Weina zu treffen, die dann übers Übersetzen hinaus auch Regieassistenz für diesen Film gemacht hat. Manche Interviews hätte ich selber nie führen können und so hat sie sich inhaltlich sehr stark eingebracht. Bei einer unserer Reisen nach Peking erzählte sie mir ihre Familiengeschichte und ich dachte mir sofort, dass es toll wäre, darüber einen Film zu machen.

Weina, Sie sind als Kind nach Wien gekommen, haben durch das Verbringen der Sommerferien in China aber auch immer einen sehr starken Bezug zum Land, in dem Sie geboren wurden, gehalten. Wie sind Sie auf die weißen Flecken in Ihrer Familiengeschichte gestoßen?

WEINA ZHAO: In erster Linie waren es die enormen Gegensätze zwischen beiden Herkunftsfamilien. Meine Familie mütterlicherseits stammt aus Shanghai und hat einen intellektuellen Hintergrund, die väterliche Familie hingegen kommt vom Land. Mit dieser Familie habe ich kaum je geredet und weiß auch so gut wie nichts über sie. Erst in den letzten sieben, acht Jahren hat sich der Kontakt zu ihnen intensiviert und erst da begann ich, Dinge aus ihrer Vergangenheit zu erfahren.  Die weißen Flecken sind in der Tat erst durch Fragen von außen in mein Bewusstsein getreten, wie z.B. ganz naheliegend  ¬– „Warum ist dein Vater nach Österreich gekommen?“ Ich kenne nur Bruchstücke von Gründen, die ihn hierher geführt haben, hätte es aber nie gewagt, da nachzufragen.

Warum traut man sich nicht zu fragen?

WEINA ZHAO: Ich glaube, dass man das als Kind einfach unterbewusst mitbekommt, was schwierige Themen in der Familie sind. Meine Mutter ist eine unglaubliche Frohnatur und ist immer gut draufgewesen. Als Kind spürt man unbewusst, dass es schmerzhafte Dinge gibt, die man besser nicht anspricht.

Wie sehen diese enormen Gegensätze zwischen Ihrer väterlichen und mütterlichen Familie konkret aus?

WEINA ZHAO: Die Familie meiner Mutter stammt, wie gesagt, aus Shanghai. Mein Urgroßvater Ying Yunwei war einer der ersten Filme- und Theatermacher Chinas, der den chinesischen Film mit aufgebaut hat. Meine Großmutter war dank ihres Vaters ebenfalls im Filmbereich tätig. Die Familie meines Vaters hingegen stammt aus einer kleinen Ortschaft, rund zwei Stunden von Peking entfernt. Sie waren Arbeiter. Mein Großvater hat einen Job in der Erdölerschließung in Westchina angenommen und ist durch die kommunistische Beschäftigungspolitik auch sehr schnell aufgestiegen. Daher durfte er mit seiner Familie nach Peking ziehen. Meine mütterliche Familie war durch die Arbeit im Film auch mit Maos Frau bekannt. Mit dem Beginn der Kulturrevolution hat diese versucht, die Menschen, die sie noch aus ihrer Zeit als Schauspielerin kannten, in gewisser Weise auszulöschen. Die meisten haben dazu geschwiegen, mein Urgroßvater war zu naiv. In seiner Familie hat man an den Kommunismus geglaubt und ihn auch mit aufgebaut; mein Urgroßvater war inoffizielles Parteimitglied und hat sich mit Mao, als dieser am Langen Marsch war, getroffen und von ihm die Anweisung erhalten, nicht der Partei beizutreten, weil er so als jemand der zu vielen gesellschaftlichen Schichten Zugang hatte, leichter agieren könne. Mein Urgroßvater wähnte sich in der Sicherheit, dass Mao ihm nichts anhaben würde und sprach offen darüber, dass er Maos Frau gekannt hatte. Deshalb wurde er als einer der ersten Kunst- und Kulturschaffenden verfolgt und er ist als Folge davon 1967 an einem Herzinfarkt gestorben. Meine Großmutter wurde als amerikanische Spionin für fünf Jahre ins Gefängnis geschickt, ihre älteste Tochter folgte der Jugend-Landverschickungsbewegung und meine Mutter war mit zwölf völlig auf sich alleine gestellt und musste in Peking in der Wohnung bleiben, damit diese nicht auch noch konfisziert wurde. Von meiner väterlichen Familie hatte ich gedacht, dass sie diese Zeit ziemlich unbeschadet überstanden hatte. Erst im Zuge der Interviews habe ich erfahren, dass auch sie, weil mein väterlicher Urgroßvater einen kleinen Landbesitz gehabt hatte, schikaniert wurde.

Seht ihr in diesen beiden Familien stellvertretend ein Abbild der chinesischen Gesellschaft und ihrer Geschichte in den letzten hundert Jahren?

JUDITH BENEDIKT: Es war uns früh bewusst, dass wir es hier mit einer einzigartigen Familienkonstellation zu tun haben und wir wollten über diese beiden Spannungspole den Film erzählen. Nach langem Reflektieren und Arbeiten am Konzept sind wir aber zum Schluss gekommen, dass wir den Film aus Weinas Perspektive erzählen werden, da in ihr beide Familien zusammenlaufen.

Wird der Film in erster Linie aus Interviews bestehen?

WEINA ZHAO: Es wird Interviews geben, aber auch Familiensituationen mit Gesprächen. Mein Großvater mütterlicherseits ist leider im Frühjahr 2018 gestorben. Gottseidank haben wir sehr früh zu drehen begonnen und mit ihm noch ausführliche Gespräche geführt. Wir wollten nicht, dass es ein allzu interviewlastiger Film wird und halten es für unabdingbar, auch die Interaktion in der Familie zu zeigen. Im Prinzip hat sich die Perspektive umgekehrt. Ich wollte zunächst aus der Sicht meiner Familie erzählen und nun erzähle ich zwar immer noch die Familiengeschichte, allerdings aus meinem Blickwinkel. Der Fokus liegt auf meinem Empfinden und meiner Beziehung zu dieser Familie.

Das heißt Weina wird auch selbst im Bild sein?

JUDITH BENEDIKT: Weina wird im Bild sein und es wird auch einen Off-Text geben, weil wir das bisherige Familiennarrativ hinterfragen wollen: Warum ist etwas auf diese Weise erzählt worden? Warum ist es immer gleich, mit denselben Auslassungen erzählt worden? Damit spannt sich auch ein inhaltlicher Bogen zur österreichischen Geschichte, wo die Zeit des Nationalsozialismus auch nicht sehr gründlich aufgearbeitet worden ist. Interessanter Zufall, dass Weinas Familie ausgerechnet in Wien gelandet ist. Unser Ziel wäre es, dass sich jeder Zuschauer für sich die Frage stellt – Wie ist das eigentlich in unserer Familie? Wer waren die Täter? Wer die Opfer? Was ist verschwiegen worden?

Wird sich die Kamera in erster Linie auf die Menschen konzentrieren oder wird sie auch versuchen über andere Elemente wie z.B. die Architektur vom gesellschaftlichen Wandel in China zu erzählen?

WEINA ZHAO: Ja, das wollen wir auf alle Fälle. Da wir in den letzten Jahren regelmäßig nach Peking gereist sind, konnten wir sehr gut dokumentieren. In Peking wurden in den letzten 20 Jahren 90% von der Originalsubstanz abgerissen. Die Altstadtviertel, die wir vor drei, vier Jahren noch gefilmt haben, existieren nicht mehr. Dafür schießen praktisch jeden  Monat neue Hochhäuser aus der Erde. Diese rasanten Veränderungen versinnbildlichen gut den Wandel der Zeit.

Wie erleben Sie ihre Identität und Zugehörigkeit zu beiden Kulturen?

WEINA ZHAO: Ich habe mich sehr früh sowohl der einen wie der anderen Kultur zugehörig gefühlt. Durch die Recherchen für den Film und die Fokussierung auf meine Perspektive hat sich ein Gefühl des Weder-Noch eingestellt. Je mehr ich mich mit meiner Vergangenheit und meiner Familie beschäftige, merke ich, dass es schon schwierig ist, eine klare Antwort zu finden. An guten Tagen sind es beide, an schlechten keine von beiden.

Wird es im Zusammenhang mit Ihrem Urgroßvater auch altes, von ihm gedrehtes Filmmaterial geben?

WEINA ZHAO: Das soll es geben. Es tauchen in den letzten Jahren immer mehr Filme von ihm im Internet auf. Die Filme liegen in chinesischen Archiven und da müssen wir noch einen für uns leistbaren Weg finden, um sie im Film verwenden zu können. Da steht uns auch noch eine intensive Sichtungsarbeit bevor, um spannende Ausschnitte zu finden. Interessanterweise bin ich vor kurzem erst draufgekommen, dass die Viennale 1991 seinen Film Tao Li Jie gezeigt hat.

Haben Sie in den Gesprächen mit den verschiedenen Familienmitgliedern, die aus verschiedenen sozialen Hintergründen und Generationen kommen, auch ein unterschiedliches Erleben zwischen Männern und Frauen feststellen können?

WEINA ZHAO: Ich habe mich im Zuge meines Sinologie-Studiums auch sehr intensiv mit Feminismus unter den Kommunisten beschäftigt. Die Kommunisten haben offiziell Gleichberichtigung propagiert und haben die Frauen auch aus den Häusern geholt und in gewisser Weise befreit. Sie wurden aber in erster Linie vom Staat als Arbeitskräfte benötigt, für mich hat das nicht unbedingt mit meinem Verständnis von Emanzipation zu tun. An der Lebensgeschichte meiner Großmutter väterlicherseits lässt sich allerdings schon ablesen, welchen Unterschied es für sie bedeutet hat, dass sie später dank der kommunistischen Partei die Schule nachholen konnte, nachdem sie als Kind nicht nur nicht zur Schule hatte gehen dürfen, sondern mit acht bereits arbeiten musste. Da mag einiges in der Theorie als Schein-Emanzipation wirken, durch die Gespräche in der Recherche ist mir bewusst geworden, was sich da wirklich getan hat. Umgekehrt fand ich es sehr schade – dass ist eine der vielen Fragen, die ich noch nie meiner Mutter zu stellen gewagt habe –, dass sie in Österreich nicht das machen konnte, was sie vielleicht gerne getan hätte. Sie ist meinem Vater nach Österreich gefolgt. Ich hab mich noch nicht getraut zu fragen, was sie gerne beruflich gemacht hätte und ob sie mit dieser Entscheidung glücklich war.

Gibt es eine Frage, auf die Sie mit diesem Film unbedingt eine Antwort finden wollen?

WEINA ZHAO: Schwierig. Mein Wunsch ist zum einen, dass wir den Film so realisieren können, wie wir uns das gemeinsam vorstellen und dass ihn meine Familie sieht und verstehen wird, warum wir diesen Film gemacht haben.

Interview: Karin Schiefer
Juli 2018