© Eve Sussman

 

Über G.W. Pabst gibt es viel Literatur, aber niemand kennt die Geschichte der Trude Pabst

 

Es war purer Zufall, dass Angela Christlieb Bekanntschaft mit Daniel Pabst machte und dabei feststellte, dem Enkel des Regiemeisters der Weimarer Schule gegenüberzustehen. Eine Begegnung mit künstlerischen Folgen: Die Filmemacherin entdeckt nicht nur die Enkel Daniel, den Kunstsammler und Architekturfotografen, Marion, die Schmetterlingszüchterin, Ben, den Dinosaurierforscher, sondern dank deren Offenheit auch Dokumente und Arbeiten der Großmutter Trude. In PANDORAS VERMÄCHTNIS entsteht ein assoziatives Mosaik aus filmischen Zitaten, aktuellen Bezügen und aufschlussreichen Erinnerungen – das cineastische Album einer faszinierenden Familie.

 

Ihrem Regiestatement ist zu entnehmen, dass bestimmte Begegnungen und Erfahrungen dazu führten, dass Sie das Gefühl hatten, diesen Film machen zu müssen. Können Sie uns etwas über diese Begebenheiten erzählen, die den Ausschlag für diese Arbeit gegeben haben?

ANGELA CHRISTLIEB: Ich habe Daniel Pabst in der Wiener Musikszene kennengelernt, auf seiner Visitenkarte stand Sammlung Pabst. Ich fragte ihn, ob er mit G.W. Pabst verwandt sei und habe erfahren, dass er der Enkel ist. Da ich ein großer Fan der frühen G.W. Pabst-Filme bin, war meine Neugier geweckt. Ich wollte alles von ihm wissen! Wir haben uns getroffen und er hat mir – ganz schillernd – seine Kindheitserinnerungen erzählt. Von seiner Großmutter, die immer Filmstills aus der Schublade gezogen hat und wie er als kleiner Junge in diese Filme eingetaucht ist. Seine Erzählungen waren so unglaublich, dass ich beim Zuhören bereits einen Film vor mir sah. Ich wusste instinktiv, dass ich diesen Film machen muss. Es gab so viele Themen, die mich dabei faszinierten: die Geschichte dieser unglaublichen Familie und parallel dazu die Filme von G.W. Pabst. Mich haben schon immer Traumwelten und Eskapismus in der Psychoanalyse interessiert. In meinen Filmen ging es oft um Menschen, die in selbst geschaffenen „imaginären“ Welten leben oder sich ausgefallenen Leidenschaften hingeben. Gleichzeitig haben mich diese modernen Frauentypen aus den zwanziger Jahren begeistert, die damals gegen reaktionäre Rollenfestlegungen konzipiert waren. G.W. Pabst konnte sich in seinen frühen Filmen auf einzigartige Weise in diese Frauenrollen und ihre soziale Lage hineinversetzen, die damals vollkommen neu waren in der Filmgeschichte.

 

Eine Konstante, die sich zu Ihren Arbeiten ebenfalls feststellen lässt, ist die, dass Sie zu Menschen oder Kollektiven arbeiten, die abseits von Normen und Konventionen ihre Wege gehen. Die Familie Pabst ist ein Ensemble außergewöhnlicher Persönlichkeiten. Wie sind Sie in Ihrer Recherche und Arbeit mit diesem familiären „Kollektiv“ an Ihr Thema und Ihre Protagonist*innen herangekommen?

ANGELA CHRISTLIEB: „Kollektiv“ ist sicherlich ein Begriff, der zu anderen Filmen von mir besser passt. In diesem Film geht es eher um familiäre Strukturen. Was mich an der Familie Pabst so fasziniert hat, ist diese Ernsthaftigkeit. Jeder dieser Enkel*innen, die im Film porträtiert werden, ist eine Persönlichkeit für sich. Alle verfolgen ihre ungewöhnlichen Tätigkeiten mit einer großen Leidenschaft und Akribie. Daniel Pabst ist Kunstsammler, Musiker und Architekturfotograf. Er reist kreuz und quer durch Europa und filmt brutalistische Gebäude mit einer Drohne. Marion ist engagierte Umweltaktivistin und Schmetterlingszüchterin. In ihrer Zucht gibt es über 20 seltene Arten. Ben Pabst ist Dinosaurierforscher. Er hat im Jura-Gebirge und Amerika unzählige Dinosaurier entdeckt und ausgegraben. Einige davon sind im Naturhistorischen Museum in Wien ausgestellt. Ich glaube, dass das Leben der Enkel*innen parallel zu den Filmen eine spannende Collage ergeben wird. Ihre Erzählungen sollen sich mit Filmausschnitten, Tagebuchtexten, metaphorischen Bildern und surrealen Landschaften vermischen. Ein weiterer faszinierender Punkt ist die Offenheit dieser Familie. Sie sind alle sehr an psychoanalytischen Themen interessiert, geprägt durch ihre Großeltern. Nicht nur durch G.W. Pabst, auch die Großmutter Trude hat sich früh mit Psychoanalyse und Traumdeutung auseinandergesetzt. Michael Pabst, der Vater von Marion und Daniel, hat dazu einige Bücher veröffentlicht und seine beiden Kinder durch sein Wissen geprägt. Erinnerungen an Michael Pabst und ihren Onkel Christian Broda (der ehemalige Justizminister) werden im Film ebenfalls vorkommen. Durch unsere langjährige Zusammenarbeit ist ein großes Vertrauen entstanden. Sie freuen sich, ihre Familiengeschichte erzählen zu können. Letztendlich auch, um die Geschichte ihres Großvaters in ein anderes Licht zu rücken, da seine Rolle als Regisseur während des Dritten Reiches bis heute umstritten ist. Weitere Themen des Filmes sind die vererbten Traumata durch den Ersten und Zweiten Weltkrieg und die Frage, wie sie in den Familien weitergetragen werden. Daher glaube ich, dass dieser Film auf ein großes allgemeines Interesse stoßen kann, weil sich jeder von uns darin wiederfinden kann.

 

Die Familiengeschichte, die Sie in den Fokus setzen, spannt einen zeitlichen Bogen von rund 130 Jahren. Sie haben mit den Enkel*innen lebende Protagonist*innen , aber auch mit den Generationen davor, jene, die nicht mehr da sind. Wie haben die nicht mehr lebenden Familienmitglieder in Ihrem Filmkonzept ihren Platz gefunden?

ANGELA CHRISTLIEB: Mein Konzept hat sich im Laufe der Recherche sehr verändert. Zu Beginn hatte ich mich auf Daniel Pabst und dessen Cousin Ben Pabst konzentriert. Danach habe ich Daniels Schwester Marion und seine Mutter kennen gelernt, die ebenfalls im Film dabei sein wollten. Als ich später die Tagebuchaufzeichnungen der Großmutter Trude Pabst lesen durfte, bekam der Film eine völlig andere Wendung: Durch Trudes Erlebnisse kam eine persönliche Ich-Erzählung dazu. Ich erfuhr, dass sie im Schatten von G.W. Pabst eine bedeutende Rolle in seiner filmischen Arbeit spielte. Über G.W. Pabst gibt es viel Literatur, aber niemand kennt die Geschichte der Trude Pabst: Wie sich die beiden kennenlernten, wie sie ihn bei den Dreharbeiten unterstützt hat und wie sie sich später emanzipiert hat. Ich beschloss, dass der Film einen Perspektivenwechsel brauchte: Eine filmische Reise mit einer Meta-Ebene. Trudes Erinnerungen und ihre Briefe, die sie mit G.W. Pabst gewechselt hat, bilden die Struktur des Films. Tagebuchaufzeichnungen gemischt mit Filmausschnitten und mit Realgeschichten der Enkel*innen. Es gibt Tonaufnahmen von Trude Pabst. Die anderen Tagebuchpassagen werden mit einer Voice-Over-Stimme gesprochen werden.

 

Was waren die besonders präsenten Themen in Trude Pabsts Tagebüchern?

ANGELA CHRISTLIEB: Sie hat in den zwanziger Jahren hauptsächlich die Ereignisse während der Dreharbeiten dokumentiert. Ihr wichtigstes Erlebnis war die Reise in die Sahara, wo Die Herrin von Atlantis gedreht wurde. Trude hatte in der Wüste ein Erweckungserlebnis religiöser Art und sie begann, sich danach mit Traumdeutung zu beschäftigen und ihre Träume aufzuschreiben. In ihren Tagebuchaufzeichnungen begann sie einen Briefwechsel mit einer Buddhistin, die sie während Dreharbeiten in Nizza kennengelernt hatte und die ihre Träume gedeutet hat. Diese Frau hat eine wichtige Rolle in ihrem Leben eingenommen. Private Aufzeichnungen findet man im Briefwechsel zwischen ihr und G.W. Pabst, die sehr intim sind. Die Briefe während des Zweiten Weltkrieges sind sehr bewegend, als Trude in der Steiermark lebte, während G.W. Pabst in Berlin drehte. Es ist faszinierend in diese Zeitgeschichte einzutauchen und hautnah mitzuerleben, wie sich das Leben von Trude und G.W. Pabst abgespielt hat. Trude schrieb in den fünfziger Jahren ein eigenes Drehbuch. Dieser Film heißt Geheimnisvolle Tiefe, den G.W. Pabst realisiert hat. In diesem Film werden die Parallelen zu ihrem eigenen Leben deutlich.

 

Wie war Ihr Zugang zum Oeuvre von G.W. Pabst, ehe Sie sich in diese Recherche vertieft haben. Hat diese Arbeit auch Ihren Blick gewandelt?

ANGELA CHRISTLIEB: Zunächst habe ich sämtliche Filme von G.W. Pabst gesichtet und war extrem beeindruckt – vor allem von Filmen wie Die Herrin von Atlantis. Die Berliner Kinemathek gewährte mir zusätzlich einen Einblick in seinen gigantischen Nachlass. Das war sehr aufregend, Tausende Set-Fotos im Original sehen zu können. Mein Blick auf den Privatmenschen G.W. Pabst hat sich durch die Recherchen gewandelt. Er war zunächst geprägt durch Daniels Erzählungen. Dass er ein Patriarch war und seine Söhne Michael und Peter unterdrückt hat. Daniel sprach von einer Kälte und Sprachgewalt, die bei seinem Vater traumatische Erfahrungen hinterließ. Er hat Trude in keiner Weise in ihrer Schauspiel-Karriere unterstützt. Außer in einer kleinen Nebenrolle durfte sie nicht in seinen Filmen mitspielen. Als ich ihre Tagebücher und Briefe gelesen habe, habe ich erfahren, dass sie eine große Rolle in seiner filmischen Arbeit spielte.

 

Der Titel PANDORAS VERMÄCHTNIS verweist auf Die Büchse der Pandora. Spielt die Figur der Lulu eine wichtige Rolle? Gibt es einen besonderen Grund, dass der Titel Ihres Films auf diesen Film verweist, obwohl gewiss auch Ausschnitte aus anderen Filmen vorkommen werden?

ANGELA CHRISTLIEB: Ich habe den Film Pandoras Vermächtnis genannt, weil ich mit dem Titel assoziativ spielen wollte. Es geht in meinem Film ja auch darum, dass eine Büchse geöffnet wird und Geheimnisse ans Tageslicht kommen. Die Figur der Lulu spielt dabei indirekt eine wichtige Rolle. Im Haus von Marion gibt es eine Ahnengalerie, in der ganz oben ein Bild von G.W. Pabst hängt und darunter die Familienmitglieder angeordnet sind. Unter den Bildern ist auch ein Foto von Louise Brooks, da Marion findet, dass sie irgendwie zur Familie gehört. Scheinbar hatte sie mit G.W. Pabst eine kurze Affäre. Das war für Trude Pabst sicherlich problematisch, falls sie es geahnt hat. Aber Marion hat Louise Brooks trotzdem in die Ahnengalerie aufgenommen. Mich fasziniert die Figur der Lulu in Die Büchse der Pandora, weil sie so vielschichtig ist. Dass sie zum Zeitpunkt der Dreharbeiten ein Verhältnis mit G.W. Pabst hatte, gibt dem Ganzen einen weiteren spannenden Aspekt. Die Büchse der Pandora wird sich durch den Film ziehen, er wird aber nicht der wichtigste Film werden. Geheimnisvolle Tiefe wird einen größeren Teil des Archivmaterials ausmachen, da ich in diesem Film viele Parallelen zu Trudes Leben entdecken konnte.

 

Das Konzept sieht gedrehtes Material vor und auch Filmausschnitte. Wird es über die Gespräche mit Ihren Protagonist*innen hinaus auch eine abstrakte filmische Ebene geben?

ANGELA CHRISTLIEB: Mit den Enkel*innen werde ich situative Szenen drehen, aus denen sich Gespräche über die Familie entwickeln. Also reale Situationen aus ihrem Leben, die später mit Filmausschnitten kombiniert werden. Zum Beispiel haben wir Ben Pabst im Naturhistorischen Museum gefilmt, wie er einen seiner Dinosaurier präpariert hat. Diese Szene wird so montiert werden, dass sie sich mit einem Filmausschnitt aus Geheimnisvolle Tiefe assoziativ ergänzt. In Geheimnisvolle Tiefe geht es um einen Höhlenforscher namens Ben, der einen prähistorischen Mammut entdeckt und dessen Wohnung eine Sammlung voller Schädel und Knochen ist. Die Kombination der realen Szene mit Ben Pabst und dem Höhlenforscher Ben aus Geheimnisvolle Tiefe funktioniert bereits phantastisch. Ein ähnliches Konzept habe ich damals in meinem Film Naked Opera angewendet: eine Realgeschichte wurde mit einer Don Giovanni-Verfilmung aus den siebziger Jahren kombiniert. Ich spürte beim Drehen damals, welche Situation mit welcher Szene aus dem Archivmaterial zusammenpassen würde. Darüber hinaus wird es eine Meta-Ebene geben, die aus abstrakten Bildern besteht. Mein Konzept sieht eine Traumebene vor, die durch metaphorische Bilder visualisiert wird. Flüge über Landschaften, Schweben in Räumen, die Daniel Pabst mit der Drohne gefilmt hat. Die Idee ist, in einen Zustand des Gleitens von Raum und Zeit zu geraten. Des Weiteren werden inszenierte Traumsequenzen auf 16 mm- Filmmaterial gedreht werden. Sie sollen Trudes Traumlandschaften und ihre inneren Welten und Vorhersehungen visualisieren. Zusätzlich habe ich von meinem Kameramann Martin Putz tolle Aufnahmen aus der Sahara bekommen. Diese Bilder werden Trudes Erlebnisse in der Wüste bei Die Herrin von Atlantis visualisieren.

 

Wird es auch ein Zusammenwirken von Schwarzweiß und Farbe geben?

ANGELA CHRISTLIEB: Die Ausschnitte aus G.W. Pabst-Filmen werden alle schwarz/weiß sein, der dokumentarische Teil des Filmes in Farbe. Die Szenen, die auf 16 mm gedreht werden, werden auch in Schwarzweiß sein, um sie mit den Filmausschnitten zu kombinieren.

 

 

Interview: Karin Schiefer

November 2021