© Gerhard Mader

 

„Jedes Leben hat seine Bruchlinien.“

 

Von ihrer ersten Begegnung an wissen Elfi und Sepp, dass sie zusammengehören und für den Rest ihres Lebens zusammenbleiben wollen. Doch ihr Umfeld in der Tiroler Kleinstadt, wo sie beide ihrer Arbeit nachgehen, sieht das anders. Anita Lackenberger hat ihren Spielfilm ELFI in den siebziger Jahren angesiedelt, in einer Zeit, wo der Fortschrittswille mit dem ewig Gestrigen kollidiert und zwei Menschen mit einer kaum nennenswerten Behinderung in den Strudel dieser gesellschaftlichen Widersprüche geraten.  

 

Ihr neues Projekt ELFI beruht auf einer tatsächlichen Begebenheit. Wie sind Sie auf diese Geschichte gestoßen?

ANITA LACKENBERGER: Meine Geschichten beruhen im Grunde immer auf wahren Begebenheiten, auch Vals oder Der wilde Sommer. Mich interessiert das Leben der normalen Menschen ­– was immer „normal“ auch heißen mag. ELFI bezieht sich auf eine Person aus meinem näheren Umfeld. Grundsätzlich komme ich vom Dokumentarfilm, wo man sehr vielen Geschichten begegnet, die man letztendlich im Kopf trägt. Ausgrenzung von Menschen war schon immer ein Thema, das mich besonders beschäftigt hat und ich setze mich gerne mit Menschen auseinander, die nicht im Fokus des allgemeinen Interesses stehen. So, wie man sich lange nicht mit Frauen im Krieg beschäftigt hat, oder wie mein letzter Spielfilm Der wilde Sommer eine Diskussion über Frauen in Gang gebracht hat, die in den achtziger Jahren ihre Lebensperspektive verändert haben. ELFI ist die logische Fortsetzung meiner bisherigen Arbeit. Es ist ein Film, den man nicht eindeutig einem Genre zuordnen kann. Ich betrachte es nicht als Sozialdrama, sondern als eine starke persönliche Auseinandersetzung mit den Lebensentwürfen von Menschen, deren Existenz eine so starke Außeneinwirkung hat, dass ihnen wenig Freiraum bleibt, über ihr Leben selbst zu bestimmen. In ELFI geht es um das Thema Glück. Der Film erzählt von zwei Menschen, die einander Mitte der siebziger Jahre treffen und eigentlich Romeo und Julia sein könnten. Zunächst einmal verweist alles auf eine kleine, geordnete Existenz: Sie ist Fabriksarbeiterin, er ist im erweiterten Sinne in der Landwirtschaft tätig. Im Grunde sind es aber zwei Menschen, die in der Gesellschaft keine Chance haben, weil man ihnen diese bereits bei der Geburt abgesprochen hat. Beide sind behindert, nicht augenfällig, aber sie sind „anders“, langsam – langsam im Handeln, Sprechen und Tun. Darüber hinaus geht es um den langen Atem des Nationalsozialismus, der in den 1970er Jahren noch immer wirkt; denn während der Herrschaft der Nationalsozialisten wären Menschen wie Elfi und Sepp in Euthanasieprogrammen umgebracht worden. Die Menschen in ihrem Umfeld, in den 1970ern, verstehen nicht, wie ihr Lebensentwurf, heiraten und Kinder zu bekommen, machbar sein sollte. Diejenigen, die über das Schicksal von Elfi und Sepp entscheiden, tun es aus ihren eigenen Lebensnöten und Erfahrungen. Im Grunde haben sie Angst, Dinge zuzulassen, die möglicherweise ihre eigenen Lebenskapazitäten sprengen würden.

 

In welcher Lebensphase haben Sie Elfi persönlich gekannt – als ältere oder junge Frau? Hat sie Ihnen vielleicht ihre Geschichte erzählt?

ANITA LACKENBERGER: Nein, sie ist eine Person, die in meinem näheren Umfeld gelebt hat; ich habe einen Abschnitt aus ihrer Lebensgeschichte künstlerisch umgearbeitet und komplettiert. Ich erinnere mich an eine Zeit in meiner Kindheit, wo diese Frau herumgegangen ist und Zuckerl verteilt hat. Das z.B. ist nicht erfunden. Es geht aber in ELFI in keiner Weise darum, 1:1 ihr Leben wiederzugeben. Elfis hat es in den siebziger Jahren in den verschiedensten Facetten gegeben. Die Generationen, die heute von 20 bis 35/40 ist, kennt solche Menschen gar nicht mehr aus ihrem täglichen Umfeld. Die Generationen davor können sich im ländlichen wie auch im städtischen Milieu an Menschen erinnern, die ein bisschen langsam waren. Es waren Menschen, die aus der Norm gefallen sind, dennoch hat deren Leben in ihrem Umfeld und in der Arbeitswelt stattgefunden. Heute sind diese Menschen in Behindertenwerkstätten untergebracht. Behinderung findet heute nicht mehr im Alltag statt. Die Figur der Elfi würde es im heutigen Kontext nicht geben: Erstens gibt es die Fabriken nicht mehr und zweitens auch nicht das soziale Umfeld, in dem solche Menschen für die Öffentlichkeit existierten.

Ich halte es außerdem für einen interessanten Aspekt, dass in einer Zeit, wo wir ständig von Inklusion sprechen, gleichzeitig Ausgrenzung bis zum Exzess betrieben wird. Es wird bereits im pränatalen Stadium überprüft, wer nicht ganz passt und entschieden, ob ein Baby zur Welt gebracht wird oder nicht. Ich weiß, das ist eine schwierige Angelegenheit – ein schwer behindertes Kind ist eine Lebensaufgabe. Ich bin ganz eindeutig Pro-Choice, dennoch bleibt die Frage im Raum, wo man ansetzt.

 

Ihre Geschichte spielt Mitte der siebziger Jahre, eine interessante Zeit, wo in Österreich Mai 68 eher peripher wirksam geworden ist und gleichzeitig gerade im ländlichen Raum der Nachhall des Nationalsozialismus noch stark wahrzunehmen ist. Wie haben Sie zeitgeschichtlich und gesellschaftspolitisch diese Zeit umgesetzt?

ANITA LACKENBERGER: Ich bin von der Annahme ausgegangen, dass Sepp 1937 geboren wurde, damit dramaturgisch die Möglichkeit besteht, dass er vor den Nazis versteckt wurde. Elfi lasse ich zehn Jahre später zur Welt kommen und ich lasse auch offen, von welcher Behinderung sie betroffen ist. Als Historikerin greife ich in meinen Filmen in erster Linie historische Geschichten auf. Die siebziger Jahre sind eine sehr prägende und leider noch nicht ausreichend in den Fokus gerückte Periode des gesellschaftlichen Umbruchs. Ich selbst finde, dass Mai 68 eine kurze Bestandsaufnahme war, die eher im städtischen Milieu stattgefunden hat, nicht aber in den österreichischen Kleinstädten. ELFI spielt in einer Tiroler/Österreichischen Kleinstadt mit einer kleinen industriellen Struktur. Mitte der siebziger Jahre wurde eine leichte Stimmung von Erneuerung spürbar. Es war nicht mehr ganz so schlimm, wenn man sich scheiden ließ und die Familienreform sorgte dafür, dass Frauen nicht mehr die Erlaubnis ihrer Männer brauchten, um arbeiten zu gehen. Es gab erste Ministerinnen und Staatssekretärinnen. Für mich bedeuten die siebziger Jahre einen unheimlichen Aufschwung im gesellschaftlichen Bereich und Emanzipationsschub. Gleichzeitig ist der Nationalsozialismus in den Haltungen der Leute immer noch präsent. Es hörte nicht auf, vor allem nicht im Bereich der Behinderung. Es kommt zwar in den siebziger Jahren zur Reform in der Psychiatrie, aber die handelnden Personen sind noch immer aus früheren Zeiten geprägt. Vorkommnisse, wie die am Wiener Spiegelgrund, werden in den siebziger Jahren unter den Tisch gewischt. Als es dann in den achtziger Jahren endlich aufbricht, ist es beinah zu spät, um es für die Betroffenen aufzuarbeiten. Die siebziger Jahre sind für mich ein großer, schöner Ballon, der in Wirklichkeit sehr viele Eiterbeulen mit sich trägt.

 

In ELFI gibt es sehr viele Figuren, allein schon durch die beiden Großfamilien, einerseits die von Elfi, andererseits die von Sepp. In dieses Beziehungsgefügen weben Sie das Pro und Contra zur Frage, ob die beiden heiraten und eine Familie gründen können. Wie haben Sie dieses komplexe Geflecht gebaut?

ANITA LACKENBERGER: Familie und die Gesellschaft, in der wir uns bewegen, sind komplexe Angelegenheiten. Gut und Böse, das wäre rasch gedreht. Für mich ist es aber eine zentrale Sache, in meinen Filmen die Welt in ihrer Komplexität aufzuzeigen. Man kann bei ELFI auf ein gutes Ende hoffen, die Chancen stehen nicht sehr hoch. Die Menschen – daran hat sich bis heute nichts geändert – wollen immer einfache Antworten haben. Es gibt sie leider nicht. Es gibt meist nur Entscheidungen, wo man abwägen muss, was ein bisschen weniger schlecht ist. Elfis Mutter war eine Nazianhängerin, die sich sehr wahrscheinlich dem Ruf nach Euthanasie angeschlossen hat. Und plötzlich stand sie selbst mit einem Kind da, das nicht ganz blond und gesund war. Sie ist eine extrem getriebene Figur. Sie unterstützt letztlich die Entscheidung, dass Elfi zur Abtreibung gezwungen wird, vor allem aus Sorge, dass es ihrer Tochter noch schlechter ergehen könnte als ihr. Keine Entscheidung, die die Mutter für die Elfi trifft, ist eine gute Entscheidung, und sie weiß das. In solche Gewissenskonflikte muss man erst einmal kommen! Sie hat aus ihrer Sicht der Dinge nur die Wahl zwischen schlecht und noch mal schlecht. Die Mutter kann nach ihren Lebenserfahrungen nicht mehr daran glauben, dass auch einmal etwas gut ausgehen könnte.

 

Sie zeigen aber mit der Familie von Sepp und dem sehr aufgeschlossenen Arzt auch die andere Seite.

ANITA LACKENBERGER: Es gibt in der Tat auch die andere Seite, aber wie schnell bewegt sie sich? Der Arzt hat so lange den Mund gehalten. Vor dem Fall Elfie hat es wahrscheinlich noch und nöcher „Vorgänger-Elfis“ gegeben. Er wirkt zunächst wie der fortschrittliche Sunny-Boy, er wird aber nicht unbedingt zu denen gehören, die am Ende positiv wegkommen. Dafür schaut er viel zu lange zu. Wenn einer von Anfang an die Situation hätte bereinigen können, dann wäre er das gewesen. Er lässt sich aber erst am Ende, als seine eigene Reputation auf dem Spiel steht, zum Handeln bewegen. Wie viel hat es gebraucht, damit es ihm zu viel wird? Einer muss aber beginnen, damit die Leute anfangen nachzudenken.

 

Wie planen Sie Ihre Arbeit mit den Schauspieler*innen? Werden Sie mit einer Mischung aus Profis und Nicht-Profis arbeiten?

ANITA LACKENBERGER: Grundsätzlich habe ich vor, mit Profis zu arbeiten. Die männliche Hauptrolle ist mit Roland Silbernagl besetzt und wir haben Gerti Drassl, Kristina Sprecher, Ute Heidorn, Johannes Seilern, Heinz Trixner, Maximilian Achatz und eine wunderbare Newcomerin für die Elfi – Sofia Falzberger – angefragt. In der aktuellen Situation ist es mit fixen Zusagen schwierig, da wir schon sehr lange an der Finanzierung des Projekts arbeiten und die Schauspieler*innen in der Zwischenzeit auch andere Projekte zusagen mussten. Außer für Statist*innen z.B. am Wirtshaustisch, habe ich nicht vor, mit Laien zu arbeiten. Es werden vor allem österreichische Schauspieler*innen mitwirken, mit denen ich zum Teil bereits gearbeitet habe. Ich arbeite sehr gerne mit einem bewährten Team. Ein Einwand, der wiederholt zum Drehbuch geäußert wurde, war der, dass es wenig Dialog zwischen Elfi und Sepp gibt. Mir ist es sehr wichtig, dass die beiden über ihre Verbundenheit nur sehr wenig reden, weil sie das nicht brauchen. Sprechen ist für sie eine zweite Kategorie. Was viel stärker ist, sind die Emotionen zwischen ihnen. Darin liegt auch eine der großen Regie- und Schauspielaufgaben, dass diese beiden Hauptfiguren auf einer non-verbalen Ebene diese Geschichte füllen müssen. Einer der Effekte dieses Drehbuchs soll der sein, dass sich alle möglichen Leute ständig Gedanken über die beiden machen und diese auch äußern. Doch letztlich wissen die beiden so genau, was sie vom Leben wollen, nämlich einander lieb zu haben. Sie wünschen einander gegenseitig das Beste vom Leben und das ohne großes Hin und Her.

 

Stellt man aus dieser Geschichte aus den siebziger Jahren einen Vergleich zu heute, dann lässt sich ein deutlicher gesellschaftlicher Fortschritt feststellen. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Sie den aktuellen Umgang mit Behinderung kritisch sehen?

ANITA LACKENBERGER: Der Fortschritt verläuft nicht linear. Ich sehe einen Vorteil darin, dass es Schulen gibt, wo Kinder mit entsprechendem Bedarf eine spezielle Betreuung und persönliche Unterstützung erfahren. Gleichzeitig gibt es Bestrebungen, Kinder in den Regelunterricht zu inkludieren, auch dafür spricht sehr viel. Es ist wieder einmal alles andere als einfach, einen klaren Standpunkt zu vertreten. Ich sage grundsätzlich „Ja“ zu Inklusion, aber vielleicht nicht in jedem Fall. Es ist eine gute Sache, dass behinderte Menschen heute die Möglichkeit haben, in Behindertenwerkstätten diverse Tätigkeiten zu verrichten. Wir machen es uns aber auch leicht, diese Menschen aus unserem täglichen Leben verschwinden zu lassen. Das ist die Kehrseite der Medaille. Ich weiß auch keine Lösung. Ich denke nur, wir sollten uns um eine Gesellschaft bemühen, in der letztlich nicht das passiert, was unter den Nazis auf abscheuliche Weise geschehen ist, nämlich, dass sich ein Streben nach Menschen durchsetzt, die ganz bestimmten Standards entsprechen. Was ist denn die Norm? Und wie schnell passiert Ausgrenzung? Elfie und Sepp sind nicht groß behindert. Bei Sepp steht z.B. gar nicht fest, ob sich nicht ein Teil seiner „Behinderung“ dadurch erklärt, dass er aufgrund der Nazi-Ausgrenzung nicht rechtzeitig Lesen und Schreiben gelernt hat. In meiner Kindheit, so kann ich mich noch erinnern, ist man am Land tagtäglich Menschen mit geistiger (auch körperlicher) Behinderung begegnet. Sind sie in Heimen/ Werkstätten/ Institutionen besser aufgehoben, als in machen Familien, wo sie ungeliebt und vielleicht körperlicher Gewalt ausgesetzt sind? Jedes Leben hat seine Bruchlinien. Die Frage bleibt, wie geht man generell damit um? Wir werden keine schnellen und einfachen Antworten finden. Wenn der Film zu einer Debatte beiträgt, dass jeder Mensch in seiner Form das Recht hat, sein Leben zu verwirklichen und unsere Gesellschaft genau darauf aufpassen sollte, dann hat er den Punkt getroffen. In unserer offenen Gesellschaft betreiben wir viel öfter soziale Ausgrenzung, als wir es wahrhaben wollen. Da spreche ich nicht nur von Behinderung. Unsere Gesellschaft ist aus einer Öffnung, die schon einmal erreicht war, wieder sehr rückschrittlich geworden.

 

Interview: Karin Schiefer

Juni 2022