© Sarah Tasha Hauber

 

„Ich halte es ja für gesellschaftlich interessant, dass man sich nicht dafür schämt, reich zu sein.“

 

Marie Luise Lehner arbeitet gerade intensiv an den Drehvorbereitungen zu ihrem Langfilmdebüt WENN DU ANGST HAST, NIMMST DU DEIN HERZ IN DEN MUND UND LÄCHELST. Der Titel ist wie schon oft bei ihren Kurzfilmen so humorvoll wie programmatisch – denn für die zwölfjährige Anna bedeutet der Wechsel in eine höhere Schule nicht nur eine erste Erfahrung vom Anderssein, sondern auch eine vom gelungenen Bei-sich-selbst-Bleiben.

 

Das erste Schöne an diesem ersten Langfilm-Projekt ist sein Titel: er ist lang, poetisch und trägt etwas von Zuversicht. Wie oder wann tauchte dieser Titel auf – bereits als Impuls oder in einer späteren Phase? Hat er auch vielleicht etwas mit Ihrer eigenen literarischen Arbeit zu tun?

MARIE LUISE LEHNER: Es ist ein Zitat. Ich hoffe natürlich, dass dieser lange Titel auch bleiben kann. Es ist ein Zitat aus Aglaja Veteranyis Warum das Kind in der Polenta kocht. Ganz exakt heißt das Zitat: „Wenn du Angst hast, nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst, sagt meine Mutter“. Was zu meinem Film sehr gut passen würde, aber mit dem Nachsatz wäre er wohl zu lang geworden. Ursprünglich hieß das Projekt Anna. Mindestsicherung. Daran gefiel mir die doppelte Bedeutung, einerseits als eine soziale Zuwendung vom Staat und anderseits als Mindestmaß an Sicherheit. Von diesem Titel sind wir aber abgekommen, weil er international nicht verständlich ist und sich nicht treffend ins Englische übersetzen lässt. Da meinte meine Produktionsfirma, ich hätte doch immer so schöne lange Titel… Einer war Mein Hosenschlitz ist offen wie mein Herz – ein Zitat von Ianina Illiceva, einer Autorinnenkollegin, die vor mittlerweile sieben Jahren verstorben ist; ihr Werk, so war mein Gefühl, hat etwas mit dem Inhalt des Films zu tun. Mein letzter Kurzfilm hieß Im Traum sind alle Quallen feucht, das ist kein Zitat, ich fand es aber lustig, einen Filmtitel zu haben, der sich erzählt wie ein Witz. Aglaja Veteranyi ist eine der wichtigsten Autorinnen für mich. Sie hat nicht viel geschrieben, ich liebe ihre Sprache und es geht in Warum das Kind in der Polenta kocht auch um Aufwachsen, um Beziehung zu den Eltern, ganz stark um die Mutterbeziehung, die viel problematischer ist als die, die in meinem Film geschildert wird. Ich finde, der Titel wie WENN DU ANGST HAST, NIMMST DU DEIN HERZ IN DEN MUND UND LÄCHELST ist etwas, was ich lese und sofort verstehe, ich hab ein Bild, es berührt mich, es transportiert eine Stimmung und ich habe auch das Gefühl, das ist ein Zustand, den ich gut kenne. Vielleicht auch als Frau, die Filme macht, die durch eine gläserne Decke kommen möchte. In vielen Situationen, wo man mit etwas überzeugen möchte, ist es vielleicht eine Strategie.

 

WENN DU ANGST HAST, NIMMST DU DEIN HERZ IN DEN MUND UND LÄCHELST ist Ihr erster Langfilm. Im Regiestatement zitieren Sie drei Filmemacherinnen, die Sie inspirieren: Lucrecia Martell, Eliza Hittman und Laura Wandel. Worin bestand diese Inspiration?

MARIE LUISE LEHNER: Man ist bei den Einreichungen auch aufgefordert, Filme zu zitieren, um visuell die Intention des eigenen Projekts anschaulich zu machen. Mich interessiert ein subjektiver Blick der Protagonistin, dafür liefern die drei erwähnten Beispiele unterschiedliche Perspektiven. In La Ciénaga geht es um eine Familie, die anstrengend ist; es gibt keinen Platz, zuviel Berührung, alles ist emotional aufgeladen. Gleichzeitig passieren tausend Dinge nebeneinander. Die Dramaturgie ist so, dass ich von einem ins Nächste gezogen werde, dass nichts vorhersehbar ist und dass ich von Emotionen geleitet werde. Durch die vielen Nebenhandlungen hat es etwas sehr Realistisches und Überzeugendes und auch etwas Körperliches. Bei Lucrecia Martell geben mir die vielen Nebengespräche das Gefühl einer subjektiven Wahrnehmung. Ähnlich ist es bei Eliza Hittman. Joey Soloway, eine nicht binäre Person, die in den USA in der Produktion tätig ist, hat in einem Vortrag über einen möglichen female gaze u.a. Eliza Hittman zitiert. In ihrem Film It Felt Like Love geht es um einen sexuellen Übergriff an einem relativ jungen Mädchen, der aber auch etwas mit ihrer starken Sehnsucht nach einer erotisch-sexuellen Beziehung zu tun hat und sie schlittert in eine Gewaltsituation. Ich fand es schön, wie ihr Blick der Begierde (sie ist vielleicht 13) auf diesen Mann, der älter ist als sie, gezeigt wird; sie ist am Meer, der Sand ist auf der Haut, es ist heiß und allen ist langweilig, sie liegen auf Steinfliesen oder singen in den Ventilator. Ich habe das Gefühl, dass ich emotional ganz viel spüre aus dieser subjektiven Perspektive. Wie ist der Blick einer Frau, die begehrt und nicht begehrt wird? In Playground von Laura Wandel geht es um Ausgeliefert-Sein. Es ist ein Film mit kleineren Kindern, ein Mädchen spielt die Hauptrolle, die Kamera ist immer auf der Augenhöhe der Kinder und verwendet immer so telige Objektive, dass man das Umfeld nicht wirklich sieht. Das Mädchen merkt, dass ihr Bruder in der Schule durch andere Kinder Gewalt erlebt. In ihrer Logik will sie versuchen, etwas dagegen zu unternehmen und weiß aber auch, dass man die Erwachsenen nicht zu Hilfe holen kann. In unserem Film geht es auch um Ausgeliefert-Sein, eher im Bezug auf Klasse. Das Hauptthema sind Klassen­unterschiede und Freundschaft. Es geht um Hineingeboren-Werden in Verhältnisse, für die man nichts kann und die man auch nicht ändern kann.

 

Anna ist zwölf und steht am Beginn der Pubertät, sie hat einen Schulwechsel hinter sich und muss erst ihren Platz finden. Bei ihr ist gerade viel in Veränderung und in Schwebe. Sind auch dieser Zustand des Dazwischen und der Wandel Themen, die Sie beschäftigt haben?

MARIE LUISE LEHNER: Wandel ist filmisch interessant für einen dramatur­gischen Bogen. Ich glaube, mich hat wirklich das Thema des Klassenunter­schieds am stärksten interessiert. Das ist eine Erfahrung, die sich durch alle meine Arbeiten zieht, auch mein erster Roman beschäftigt sich damit. Es ist ein Thema, an dem ich mich noch lange abarbeiten kann, weil es omnipräsent ist. In Annas Alter beginnt man es zu verstehen. Der Schulwechsel ist für mich ein gutes Tool, um sie das noch krasser begreifen lassen zu können. Ich selbst war die Tochter einer alleinerziehenden Studentin und war bis neun in einer sehr privilegierten Schule, ohne irgendetwas davon zu bemerken. Bemerkt habe ich es erst Anfang zwanzig, als ich ehemalige Schulkolleginnen wieder traf und festgestellt habe, dass es Leute gibt, die damals schon eine Eigentumswohnung oder ein eigenes Auto hatten. Ich halte es ja für gesellschaftlich interessant, dass man sich nicht dafür schämt, reich zu sein, sondern dass es tendenziell eher etwas ist, das man zeigt. Und alle Leute, die ein bisschen weniger reich sind, müssen so tun, als wäre das normal. Es erfordert von allen, die nicht so reich sind, extrem viel Anpassungsfähigkeit, weil es zum guten Ton gehört, so zu tun, als wäre es normal, so reich zu sein, wie die reichste Person in der Gruppe. Das beschäftigt mich extrem stark. In WENN DU ANGST HAST, NIMMST DU DEIN HERZ IN DEN MUND UND LÄCHELST kommt Anna in eine neue Schule und versteht, man muss so tun, als wäre man so reich wie alle; sie findet aber heraus, dass sie das nicht will. Sie entscheidet sich im Laufe der Geschichte dazu zu stehen, wo sie herkommt, auch einen gewissen Stolz dafür zu empfinden. Sie hat eine extrem liebevolle Mutter, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten „alles“ richtig macht. Diese hat auch aufgrund einer Behinderung – sie ist schwerhörig – gar nicht die Möglichkeit gehabt, sozial aufzusteigen und mehr als die Grundausbildung zu absolvieren, weil das Schulsystem es nicht ermöglicht hat. Schwerhörige Menschen sind oft in Arbeiter*innen-Positionen, was überhaupt nichts mit den Fähigkeiten, die sie mitbringen, zu tun hat, sondern mit den Barrieren in der Gesellschaft.

 

Der Impuls, Anna in die höhere Schule zu schicken ist auch von ihrer Mutter gekommen, die ihr bessere Zukunftschancen eröffnen will.

MARIE LUISE LEHNER: Was daran extrem traurig ist: In dem Moment, wo Anna beginnt, eine höhere Bildung als ihre Mutter zu erfahren, ist es nicht nur ein Moment des Verabschiedens aufgrund der Adoleszenz, des Erwachsen-Werdens, eine eigene Sexualität haben etc. Es beginnt damit auch eine Distanz einzuziehen, die immer größer werden wird und es wird immer mehr Dinge geben, über die sich die beiden nicht verständigen können.

 

Interessant an dieser Mutter/Tochter-Beziehung ist, dass sie sehr wohl­wollend und liebevoll ist und dass nicht nur für Anna, sondern auch im Leben der alleinerziehenden Mutter eine Veränderung eintritt, da sie eine neue Partnerschaft beginnt.

MARIE LUISE LEHNER: Beide beginnen etwas Neues. Die Mutter versteht vielleicht auch, dass ihre Tochter sie nicht mehr so viel braucht, wie es vorher der Fall war. Mir war auch wichtig, eine Mutter zu zeigen, die mehrgestaltig ist und nicht nur in ihrer Mutterschaft existiert. Sie ist eine Person, die auch etwas braucht oder etwas will, die auch ein sexuelles Begehren hat und die sich am Schluss für eine Abtreibung entscheidet, die nicht negativ besetzt, sondern wohlüberlegt im Bezug auf die Umstände und deshalb wohl auch eine gute Idee ist. Annas Mutter ist eine Figur, die eine Autonomie hat, die ein Subjekt ist und nicht nur Care-Aufgaben erfüllt.

 

Wie haben Sie die Rolle der Mutter besetzt?

MARIE LUISE LEHNER:  Wir haben eine tolle Schauspielerin gefunden, deren erste Sprache Gebärdensprache ist, sie kann aber auch Lautsprache. Der Film begleitet mich schon seit etwa sieben Jahren und wenn ich ihn in frühen Stadien gepitcht habe, kam oft die Frage, ob auch eine hörende Schauspielerin die Rolle der Mutter verkörpern könnte. Das habe ich von Beginn an mit Überzeugung abgelehnt. Ich denke, unsere Darstellerin wird zusätzlich zu aller Recherche unsererseits die letzte Instanz sein, die uns auch helfen wird, aus einer Innenperspektive zu erzählen. Es ist anders, wenn man die Sprache einer schwerhörigen Person imitiert, es gibt Dinge, die wären für eine Schauspielerin sehr schwierig darzustellen gewesen. Ich bin nicht davon überzeugt, dass es immer notwendig ist, in Filmen die Rollen von ausgebildeten Schauspielerinnen spielen zu lassen, sondern ich glaube, dass es – anders als am Theater – im Film ein großes Potenzial gibt, Leute spielen zu lassen, die ein großes Wissen über das haben, was sie spielen.

 

Dieser Umstand führt auch zu einem besonderen Ansatz in der Tonebene?

MARIE LUISE LEHNER: Wir entwickeln das gerade. Es gibt Drehbuchfassungen, in denen ich versucht habe einzuzeichnen, wann wir die auditive Perspektive der Tochter, wann jene der Mutter einnehmen. Ursprünglich hatte ich zwei Erzählstränge, habe aber dann auf Anraten von Tizza Covi, die in einer späten Phase als Dramaturgin an Bord gekommen ist, auf eine Perspektive reduziert. Daher habe ich beschlossen, Dinge, die vorher in der Erzählperspektive der Mutter auserzählt waren, elliptisch zu erzählen oder aus der Perspektive der Tochter nur anzudeuten. Trotzdem denke ich, dass es ein großes Potenzial gibt, die Hörperspektive der Mutter mitzubeschreiben. Dies ergibt die Möglichkeit, ihr emotional näher zu kommen, als wenn man ihr Erleben nur visuell wahr­nimmt. Daran arbeite ich gerade in Absprache mit der Sounddesignerin Lenja Gathmann. Wir werden ein gemeinsames Treffen mit ihr und der Darstellerin organisieren, weil ich es für gut halte, dass wir jetzt schon – einige Monate vor Drehbeginn – anfangen, ein auditives Konzept zu entwickeln. Sounddesign hat ein großes Potenzial und ich bin ein großer Fan von Lenja Gathmanns Arbeit.

 

Es gibt noch eine weitere Person in der Besetzung, die einer Erwähnung bedarf, das ist Daniel Sea. Wir kam er ins Projekt?

MARIE LUISE LEHNER: Ich kenne Daniel Sea aus der Serie The L-World, die ich mit 16 angeschaut habe, wo er einen Trans-Mann spielt, der gerade Transition macht. Es war das erste Mal, dass man das im Fernsehen sehen konnte. Als Daniel nach Wien gezogen ist, habe ich ihn auf der Straße erkannt. Es ist immer interessant, wenn man Leute aus der amerikanischen Filmwelt in echt sieht, das ist wie ein Glitch in der Realität. Dann hat es sich ergeben, dass wir an der Akademie der Bildenden Künste beide in der Klasse für kontextuelle Malerei studieren. Es war schon angedacht, dass er im letzten Kurzfilm mitspielt, dann konnte er aber nicht, weil er die Wiederaufnahme von Generation Q gedreht hat. Und nun wird er in meinem ersten Langfilm mitspielen, wir werden uns noch in Bezug auf seine Rolle als Maras Vater zusammensetzen. Ich halte ihn für einen spannenden Schauspieler, der sehr wichtig für die Community ist. Mein Film liest sich auf den ersten Blick nicht so queer. New Queer Cinema und eine queere Position einzunehmen, war mir aber schon in meinen Kurzfilmen total wichtig. Und es wird auch in diesem Film stärker zum Vorschein kommen, wenn der Film dann gemacht ist. Auch im Bezug auf die Besetzung.

 

Der Drehstart ist für März 2024 geplant. Wie haben Sie Ihre jugendlichen Darsteller*innen gefunden und wie bereiten Sie sie auf den Dreh vor?

MARIE LUISE LEHNER:  Die Erwachsenen waren leichter zu besetzen. Bei den Jugendlichen ist noch nicht alles ganz klar. Ich habe für meinen Film Kaugummizigaretten, der bei Crossing Europe ausgezeichnet worden ist, mit meiner Schwester gedreht. Das war ein Vorteil. Da ich dieses Mal in einer Schulklasse drehe, würde ich sehr gerne möglichst viele Kinder finden, die einander kennen. Es gibt mehrere Ansätze für die Arbeit mit den Jugendlichen, über die ich im Detail noch nicht so viel erzählen kann. Wir werden zwischen Mitte März und Anfang Mai an 33 Drehtagen drehen. Wir brauchen diese Übergangsjahreszeit vom Winter in den Frühling, da die Klasse auch noch auf Schiwoche fährt. Wichtig ist mir, dass die Dreharbeiten für alle Beteiligten am Set möglichst angenehm sind.

 

Mit welchen Erwartungen gehen Sie in den Dreh?

MARIE LUISE LEHNER: Kann ich noch nicht sagen. Aber ich freue mich auf das Team. Bis jetzt haben wir sehr tolle Leute dabei. Ich versuche die Cis-Männer-Quote klein zu halten. Mit manchen Leuten habe ich schon zusammenge­arbeitet, mit manchen noch nicht, ich gehe jedenfalls sehr euphorisch in die Zusammenarbeit. Mit der Kamerafrau Simone Hart habe ich zwei Kurzfilme gedreht, mit der Editorin Jana Libnik mehrere Kurzfilme geschnitten. Wir sind an die Arbeitsaufträge zeitökonomisch total sinnvoll herangegangen, weil wir ziemlich genau gewusst haben, was wir brauchten. Es gibt mir eine Sicherheit zu wissen, wir stehen gemeinsam da drinnen und ich kann mich auf Simone verlassen und wir werden das zusammen gut machen; ich glaube dieses Vertrauen geht in beide Richtungen. Es war sehr schön beim Probedreh für die Gestaltung des Teasers: Es gab nur einen Drehtag, es gab kein großes Tamtam, sondern wir wissen, wir können unser Handwerk und wir machen’s.

 

Interview: Karin Schiefer

Dezember 2023