Im Gespräch mit Mariko Minoguchi
„Es hat mich gereizt, über eine Figur eine ganze Welt zu erzählen.“
Woman vs. Nature war ein erstes Motiv, mit dem sich Mariko Minoguchi für das Drehbuch ihres zweiten Spielfilms an den Schreibtisch setzte. Der Alleingang ihrer Protagonistin abseits der Zivilisation ist kein freiwilliger. Sie hat ein für viele tödliches Virus überlebt, bleibt aber hoch ansteckend und ist daher per Gesetz aus jedem zwischenmenschlichen Kontext verbannt. Ausgrenzungsdebatten, die tiefe Gräben durch alle Sphären der Gesellschaft gezogen haben, schaffen in DIE ANDERE SEITE den Grundton für die Geschichte einer Frau, die zuviel verloren hat, um sich auch noch das Recht auf Verbundenheit mit den anderen nehmen zu lassen.
Filmprojekte rund ums Thema der Pandemie stoßen immer wieder auf gemischte Reaktionen: Sollten wir diese Erfahrungen lieber hinter uns lassen oder waren sie so einschneidend, dass eine Aufarbeitung nötig ist? Was hat Sie bewegt, das Thema der Pandemie für ein wichtiges Filmthema zu erachten?
MARIKO MINOGUCHI: Für mich ist das Corona-Thema nicht das Vordergründige der Geschichte. Erstmal wollte ich einen Film schreiben, frei von den Gedanken, was sich finanzieren ließe, oder was im Kino oder Fernsehen „funktionieren” würde. Eines meiner Projekte hatte sich kurz vor Drehbeginn auf unbestimmte Zeit verschoben und ich hatte das große Bedürfnis aus dieser frustrierenden Situation irgendwas Positives zu machen. Also setzte ich mich an meinen Schreibtisch und fing mit der ersten Szene an und wusste nicht, wohin mich die Reise führen würde. Ich schrieb intuitiv los, ohne die Absicht, ein Drehbuch zu einem bestimmten Thema zu entwickeln. Ich hatte eher den Wunsch einen Woman vs. Nature-Film zu machen. Eher unterbewusst haben sich dann diese Themen eingeschlichen. Was mich zu diesem Zeitpunkt aber eigentlich noch immer sehr beschäftigt, ist die Kluft in unserer Gesellschaft, die in der Pandemie entstanden ist. Es wurde Gewalt verübt, demonstriert, Familien und Freunde haben sich zerstritten, Paare getrennt. Dann kam das soziale Ende der Pandemie und alle wollten einfach weitermachen. Wir waren froh weiterzumachen. Aber ich bin überzeugt davon, dass diese Konflikte unsere Gemeinschaft und unsere Demokratie in ihren Grundfesten erschüttert haben und die gesellschaftlichen Folgen uns noch lange beschäftigen werden. Ein wirklicher Aufarbeitungsprozess findet noch immer nicht statt. Ich verstehe, dass die Menschen keine große Lust haben, sich mit dem Thema zu beschäftigen, aber die Lösung kann nicht sein, so zu tun, als hätte es diese Zeit nicht gegeben.
Sie gehen in DIE ANDERE SEITE nicht rückblickend in Erfahrungen aus der Pandemie ein, sondern Sie entwerfen ein Szenario, wie etwas sein könnte. Die erwähnte Szene 1 hat Sie also in ein eher dystopisches Feld geführt?
MARIKO MINOGUCHI: Ich hoffe, dass das den Zugang zum Thema erleichtert. DIE ANDERE SEITE spielt zwar in unserer Welt, aber in einem fiktiven Szenario. Es ist nicht näher definiert, ob es sich um eine nahe Zukunft oder um das Jetzt handelt. Wir befinden uns im ersten Jahr nach dem Ausbruch einer Epidemie in Europa. Das Virus ist weitaus tödlicher und ansteckender als das Corona-Virus. Es sterben mehr Leute. Die Wenigen, die überlebt haben, bleiben infektiös. Diese Menschen werden aus der Gesellschaft ausgeschlossen und in eine Art Gesundheitslager geschickt; um dieser Situation zu entgehen, lebt unsere Hauptfigur außerhalb der Gesellschaft, ganz auf sich allein gestellt, in der Natur. Sie isoliert sich selbst, um niemanden zu gefährden. Für mich ist das wirklich das größte Dilemma, das ich mir vorstellen kann – nicht mehr anderen Menschen nahekommen zu dürfen.
Dilemma ist ein wichtiges Stichwort. Verschärft durch den Umstand, dass die Hauptfigur Ärztin ist, gelangt sie durch ihr Wissen und ihre Verpflichtungen im Lauf der Geschichte immer wieder vor neue Situationen, die sie vor einen unlösbaren Zwiespalt stellen. Was hat Sie veranlasst, ihr diesen Beruf zu geben?
MARIKO MINOGUCHI: In DIE ANDERE SEITE geht es primär um das Thema Ausgrenzung. Wir leben in einer Gesellschaft, die grundsätzlich schon sehr stark von der Situation der Ausgrenzung geprägt ist. Seien es die unterschiedlichen Lebensrealitäten von weißen und nicht-weißen Menschen. Menschen mit oder ohne Bildung. Solche, die im Wohlstand leben oder an der Armutsgrenze. Und eben auch Kranke und Gesunde. Meist sind in filmischen Erzählungen die ausgegrenzten Menschen nicht repräsentativ für die Leute, die am Mittwochabend ins Arthousekino gehen. Dadurch passiert es sehr schnell, dass man von außen auf Protagonist*innen blickt und sich nur bedingt mit ihnen identifiziert. Unser Verdrängungsprivileg speist sich ja auch aus dem Prinzip „mir würde das nicht passieren”. Ich wollte daher eine Hauptfigur aus dem Bildungsbürgertum erzählen, die eine bestimmte soziale Klasse verkörpert und dennoch aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird und in die Gefahr gerät, in ein Lager gesteckt zu werden. Außerdem ist anzunehmen, dass sie sich bei ihrer Arbeit als Ärztin infiziert hat, was es natürlich umso bitterer macht. Ihr Beruf spielt im Laufe der Geschichte mehrmals eine Rolle, weil sie in der Lage ist zu helfen, gleichzeitig aber nicht berühren darf.
Sie haben eingangs erwähnt, dass Sie das Women vs. Nature-Genre gereizt hat. Welche Aspekte hat dieser Zugang ins Spiel gebracht? Gab es Referenzfilme wie z.B. Die Wand? Welche Bilder sind Ihnen vorgeschwebt?
MARIKO MINOGUCHI: Ich liebe Filme wie Cast Away, Arctic oder Into the Wild. Die Wand ist auch interessant, aber eher die literarische Vorlage. Ich schaue sehr gerne Figuren dabei zu, wie sie ganz elementare Aufgaben verrichten, weil mir selber sehr bewusst ist, wie stark ich von einer Zivilisation abhängig bin. Wie würde ich zurechtkommen, wenn all das nicht mehr da wäre? Es stellt mich vor Fragen wie Könnte ich jagen? Würde ich es schaffen, ein Tier auszunehmen, mich in der Natur zu ernähren? Die Auseinandersetzung mit all diesen Fragen hat großen Spaß gemacht. Es liegt natürlich im Zeitgeist, sich die Frage zu stellen, was mit der Welt, wie wir sie kennen, passieren wird.
Ihre Figuren haben nicht nur mit dem Überleben zu kämpfen, Sie thematisieren auch den Aspekt, dass diese Notlage keine Zeit für Trauer zulässt.
MARIKO MINOGUCHI: Es war gewiss kein bewusster Vorgang, es so zu erzählen. Meine Hauptfigur hat ihre ganze Familie verloren, sie ist so sehr mit dem Überleben beschäftigt, dass sie darüber nicht nachdenkt. Würde sie sich mit ihrem Schmerz auseinandersetzen, zerfiele sie wahrscheinlich in 1000 Partikel. Dennoch macht sie im Laufe der Geschichte einen gewissen Prozess durch.
Das Drehbuch ist eines mit wenig Dialog und einer starken Präsenz der Hauptfigur. War es eine Prämisse, mit wenig Dialog zu schreiben oder hat die Figur das so ergeben?
MARIKO MINOGUCHI: Zuallererst hatte ich Lust, eine einzelne Figur zu haben, die allein in der Natur ist. Daher gibt es schon automatisch weniger Dialog. Mir fällt es leichter, Szenen in Bildern zu schreiben, weil ich die Visualität der Szene immer schon im Kopf habe. Im Drehbuch schreibe ich diese Vorstellung nur ab. Gute Dialoge zu schreiben, ist für mich viel schwieriger. Bei jedem Film stellt man sich einer neuen Herausforderung, entwickelt sich weiter und will Neues ausprobieren. Es hat mich gereizt, über eine Figur eine ganze Welt zu erzählen, das aber nicht in Worten, sondern primär über das Spiel.
Es versteht sich von selbst, dass ein Film mit einer starken Frauenfigur und wenig Dialogen eine starke Schauspielerinnenpersönlichkeit braucht. War Nina Hoss Ihre Wunschkandidatin?
MARIKO MINOGUCHI: Ich bin schon, seit ich zwanzig bin, ein Riesen-Fan von ihr. Ich habe immer gehofft, dass es mir eines Tages gelingen würde, eine Figur zu schreiben, für die ich sie anfragen kann. Während der Entwicklung von DIE ANDERE SEITE habe ich an niemand Konkreten gedacht, das geht mir beim Schreiben meistens so. Erst als ich fertig war, habe ich mir den Gedanken erlaubt, Wer könnte meine Hauptfigur spielen? Und die erste und einzige Idee, die mir kam, war Nina Hoss.
Wie erarbeiten Sie nun, wenige Wochen vor Drehstart, die Rolle mit ihr?
MARIKO MINOGUCHI: Unser Kennenlernen ist jetzt über ein Jahr her und wir sind seitdem viel in Kontakt. Wir treffen uns regelmäßig, unterhalten uns sehr viel über das Buch, lernen uns kennen. Es ist uns bewusst, dass wir einander verstehen und spüren müssen. Wir sprechen viel auch über andere Filme, über Geschichten-Erzählen im Allgemeinen. Es ist ein großer Luxus. Nina hat mir aber auch immer eine große Sicherheit gegeben, sie war ein inhaltlicher Anker im kompletten Fortentwicklungsprozess. Im Juli finden die ersten Kostüm- und Maskenproben statt, im August dann Kameratests und Anfang Oktober beginnen die Proben. Wir werden gar nicht so sehr klassische Spielproben machen. Meine Hauptfigur lebt im ersten Teil des Films in einer Hütte. Dort werden wir viel Zeit verbringen und Körperproben machen. Abläufe durchgehen, Szenen weiterentwickeln. Wichtig ist, dass man merkt, wie gut sie diesen Ort kennt. Wir wollen eine unkonventionelle Drehweise, da wir komplett in den Bergen sind – von Bayern, über Österreich bis zu den italienischen Alpen. Wer die Berge kennt, weiß, dass man sehr flexibel sein muss, weil man aufs Wetter angewiesen ist. Wir möchten nur mit available light drehen und uns den Elementen hingeben. Wir werden ein kleines, flexibles Team sein – es wird bestimmt ein großes Abenteuer. Eine Art Vorbild für die Art und Weise, wie wir drehen wollen, ist der Film Nomadland von Chloé Zhao. Der erste Drehblock ist im Herbst, der zweite im Frühjahr 2025. Wir haben schon ein paar tolle Teammitglieder aus Österreich. Wir sind aber auch noch – dies ist hiermit ein Aufruf an alle Leser*innen – auf der Suche nach weiterer Crew.
Ausgrenzung – das Thema des Films steht nicht nur in Verbindung mit der kurz hinter uns liegenden Pandemie, sondern auch mit politischen Tendenzen, die den Film sehr aktuell machen. Zu welchen Schlüssen sind Sie in Ihrer Auseinandersetzung mit der Thematik gekommen?
MARIKO MINOGUCHI: Das ist eine komplexe Frage, die ich gerne umkehren möchte. Wie können wir Grenzen überwinden? Es gibt politische und gesellschaftliche Strömungen, die ein ausgrenzendes System schaffen. Doch am Ende bin ich überzeugt davon, dass wir Menschen einander immer wieder begegnen wollen und zueinander finden können. Das ist auch die Basis meiner Geschichte. DIE ANDERE SEITE ist kein düsteres Abbild der Abgründe der Menschheit. Es geht darum, wie wir versuchen können, einander wieder zu finden, unsere Ängste zu überwinden, die Essenz des Miteinanders zu erkennen.
Welche Art von Diskussionen wünschen Sie sich mit dem Publikum?
MARIKO MINOGUCHI: Der stärkste Wunsch ist der, den Menschen ein intensives Kinoerlebnis zu bereiten, sie in eine fremde Welt, an einen Ort zu entführen, an dem sie der Natur ausgeliefert sind – dem Wind, dem Regen, dem Schnee, dass es Momente der Spannung gibt und man im Idealfall auch berührt wird. Mir ist wichtig, dass das Publikum zunächst eine emotionale Reise macht, dass man zuerst fühlt, bevor man zu denken beginnt.
Der Film entsteht in Koproduktion mit der Wiener Rundfilm und der Münchner Trimafilm, der Sie schon länger verbunden sind. Wie entstand diese Konstellation?
MARIKO MINOGUCHI: Trini Götze, eine der Produzentinnen, und ich haben uns bei meinem allerersten Praktikum kennengelernt. Ich war Setrunnerin, sie Produktionsassistentin. Seitdem gehen wir diesen Weg gemeinsam. Wir haben den Großteil meiner Kurzfilme zusammen gemacht und mein Langfilmdebüt Mein Ende. Dein Anfang wurde von ihr und David Armati Lechner produziert. Die Trimafilm ist eine Art Hafen. Ich genieße großes Vorschussvertrauen, weil wir uns so gut kennen. Und ich weiß, dass die Arbeitsbedingungen gut sind, weil wir gemeinsam für den Film kämpfen. Außerdem ist es toll, dass wir auf österreichischer Seite Rundfilm sehr früh für dieses Projekt begeistern konnten. Wir könnten uns keine besseren Partner vorstellen. Für uns ist es außerdem schön, mal über die Grenze zu schauen und eine neue Welt an Filmschaffenden kennenzulernen. Das ist eine Erfahrung, die ich als sehr bereichernd empfinde.
Interview: Karin Schiefer
Juli 2024