Als Haidy Kancler in der Zeitung von einer slowenischen Schilehrerin las, die ihren Beruf in Afghanistan ausübte, ging sie der Sache auf den Grund. Ihr Dokumentarfilm Skiing in Scarves begibt sich mit drei jungen Frauen, die diesen Sport für sich entdeckt haben, auf eine Reise, die in ein Afghanistan abseits der Medienberichte führt, einen einfachen, unbeschwerten Zugang zum Schisport eröffnet und zugleich einen interessanten Blick dahin zurückwirft, wo das rasante Bewegen auf zwei „Brettern“ als Nationalsport gilt.

Haben Sie einen persönlichen Bezug zum Schisport, um auf einen so speziellen Zugang zu diesem Sport zu kommen?

Haidy Kancler: In Slowenien ist Schifahren ein sehr populärer Sport, es gibt sehr erfolgreiche Rennläufer und viele Menschen verfolgen die wichtigen Rennen im Fernsehen. Schifahren ist wohl ein bisschen in meinem Blut, wenn auch nicht mein Lieblingssport.

Wie sind Sie dann auf den Schisport in Afghanistan aufmerksam geworden? Wie und von wem wird er dort praktiziert?

Haidy Kancler: Aufmerksam wurde ich durch einen Zeitungsartikel über eine junge Frau aus Maribor, die in Afghanistan als Schilehrerin arbeitet. Das hat mich beeindruckt und ich bin dorthin gereist, um herauszufinden, ob in diesem Thema das Potenzial für einen Film steckt. Das war eine sehr starke Erfahrung. Ich sagte mir damals, selbst wenn der Film nicht realisierbar ist, so war diese Reise eine der besten und tiefstgehenden Erfahrungen, die ich je gemacht habe. Es war dort alles anders: zunächst die Begegnung mit einer grundlegend anderen Kultur, meine Erlebnisse schienen mir mehr eher wie ein Traum, nicht wie etwas, das mir tatsächlich widerfahren ist. Es gibt in der Schweiz eine Initiative, die Geld gesammelt hat, um einen Schiklub in Afghanistan zu unterstützen. Dieses Budget finanziert Schilehrer aus Europa, aber auch das Material, die Verpflegung oder z.B. auch die Autos, die man dort, wo es keine Lifte gibt, als Aufstiegshilfe benötigt. Die Idee dahinter ist die, jungen Leuten die Möglichkeit zu bieten, Mitglied des Schiklubs zu werden und diesen Sport zu erlernen. Zunächst gab es dieses Angebot nur für Burschen, bis eine junge Schilehrerin aus Norwegen ein Jahr lang dort Mädchen unterrichtet hat. Anna, die slowenische Schilehrerin, von der ich gelesen hatte, hat in der Schweiz beim Training zwei afghanische Schisportler kennengelernt und durch ihre Kontakte ist sie nach Afghanistan gegangen, weil sie unbedingt helfen wollte.

Wo wird in Afghanistan der Schisport praktiziert?

Haidy Kancler: Südlich des Himalaya liegen sehr hohe Gebirge. Bamyan, das Dorf, wo ich drehe, liegt auf 2500 m. Es gibt keinen Strom, schon gar keine Schilifte, man muss mit dem Auto hochfahren, aber dann müssen die jungen schibegeisterten Menschen hochsteigen. Es ist eher wie Tourenschilauf. Auch dort herrscht manchmal Schneemangel und im letzten Winter mussten wir sehr hoch gehen, um Schnee vorzufinden. Das Lernen darf man sich nicht wie bei uns vorstellen. Es gibt dort nicht zuerst einen Schikurs und dann, wenn man’s beherrscht, geht man in die Berge. Natürlich beginnen sie auf Hängen mit wenig Neigung, aber die Leute dort haben nicht so einen ängstlichen Zugang zum Schifahren wie wir. Es geht um den Spaß bei der Bewegung.

Dient Ihnen der Schisport als Aufhänger, um letztlich über Afghanistan und junge Frauen dort zu erzählen?

Haidy Kancler: So ist es. Eigentlich ist das Schifahren nie das eigentliche Thema in Skiing in Scarves. Ich möchte in meinem Film mehrere Aspekte ansprechen:
Zunächst die kulturellen Unterschiede, das Thema des Leistungssports, der in der westlichen Welt für so viele Menschen eine Projektionsfläche ist und schließlich die Frauen im professionellen Sport. Und natürlich geht es mir auch darum, ein friedliches Afghanistan zu zeigen und deutlich zu machen, dass dort nicht nur aggressive, Krieg führende Menschen auf der einen und Flüchtlinge auf der anderen Seite sind, sondern, dass es dort auch ein Leben in Frieden und Freude gibt. Ein weiterer Punkt, der mir in meinem Film besonders wichtig sein wird ist der, über die drei Mädchen, die durch mein Filmprojekt nach Europa kommen, ihren Blick auf uns und unsere westliche Kultur zu bekommen.

Sie haben drei Protagonistinnen: Wie fiel die Wahl auf diese Mädchen?

Haidy Kancler: Es kamen immer wieder andere Mädchen zu den Trainings, diese drei haben sehr regelmäßig teilgenommen. Natürlich war es wichtig, dass sie gut Schi fuhren und dann für den Film war natürlich entscheidend, dass sie auch kommunikativ waren. Inzwischen kennen wir uns so gut, dass ich sie nicht als meine drei Protagonistinnen, sondern als drei Freundinnen betrachten würde.
Fariba ist 15, spricht nur Dari und gar kein Englisch. Sie ist wie alle 15-Jährigen – völlig furchtlos und will ohne Rücksicht auf Technik oder Stil einfach schnell fahren. Fatima ist 20, arbeitet bei ihrer Mutter in einem Kleidergeschäft im Bazar mit. Sie ist sehr kommunikativ, sehr sensibel, die beste Schiläuferin von allen und träumt davon, bei den Olympischen Winterspielen teilnehmen zu können, ohne zu wissen, was das wirklich bedeutet. Zakia ist 25 und arbeitet in einem Hotel. Sie muss mit dieser Arbeit ihre ganze Familie erhalten, denn ihr Vater hat seinen Job verloren, weil er seiner Tochter zu viele Freiheiten zugestanden hatte. Zakia ist überhaupt sehr sportlich. Sie war nicht nur eine der ersten Schifahrerinnen, sie betreibt auch Radsport und Paragleiten. Sie ist erwachsener als die anderen beiden, etwas weniger kommunikativ und sehr ehrgeizig.

Als die für den Film geeigneten Hauptfiguren einmal gefunden waren, stand gewiss noch die Frage im Raum, ob sie bereit waren bzw. ihre Familien zustimmten, dass sie vor der Kamera agieren.

Haidy Kancler: In Bamyan sind die Menschen sehr offen und bereit, Fremdes anzunehmen. Für mich war wichtig, den Punkt zu erreichen, wo die Mädchen vergessen, dass sie an einem Filmprojekt teilnehmen und eine Kamera im Raum ist. Ich wollte eine große Natürlichkeit erreichen. Gleichzeitig hat für mich ein Grundsatz oberste Priorität: die Mädchen machen nur Dinge, die sie bereitwillig vor der Kamera machen. Ich will sie zu nichts überreden, was sie nicht tun möchten.

Sie scheinen sich sehr spontan und enthusiastisch zu diesem Projekt entschlossen zu haben. Hatten Sie nie Momente des Zweifels, der Sorge, dass es ein gefährliches und für Sie als Frau ein schwieriges Projekt werden könnte?

Haidy Kancler: Daran will ich ehrlich gesagt nicht denken. Es gäbe unzählige Gründe, weshalb ich es nicht tun sollte. Ich habe mich nicht für Afghanistan entschieden, weil mich das Land so beeindruckt hat oder mich diese Kultur im Besonderen fasziniert. Ich würde sagen, die Geschichte hat mich nach Afghanistan geführt. Wenn es in Europa regnet oder schneit, dann haben alle nur eines im Sinn, möglichst schnell ein Dach über dem Kopf zu suchen. Dort habe ich erlebt, dass es eiskalt war, die Mädchen in Ballerinas zum Schilaufen kamen und ihre Füße nicht mehr spüren konnten, aber sie waren einfach begeistert über die Möglichkeit, sich im Schnee zu bewegen und schizufahren – egal, wie die Witterung war. Diese Einstellung hat mich sehr beeindruckt. An die Gefahren will ich nicht denken und ich glaube auch, wenn ich mit einem Grundvertrauen, dass es gut gehen wird, an die Sache herangehe, dann wird es auch gut gehen. Angst bringt mich nicht weiter. Auch die Einheimischen, die uns unterstützen und begleiten, können für ihre eigenen Familien nicht sagen, wo es hundertprozentig sicher ist. Afghanistan ist ein Land im Krieg.

Wie sieht Ihr Drehkonzept aus? In wie vielen Blöcken möchten Sie Ihre Erzählung strukturieren bzw. drehen?

Haidy Kancler: Ich habe einige Probedrehs gemacht und im letzten Winter auch schon für den Film gedreht. Da wurde den Mädchen auch bereits der Plan für die Europareise erstmals besprochen. Wir fahren im Winter 2018/19 wieder nach Afghanistan und beginnen mit dem eigentlichen Dreh. Eine Schwierigkeit ist allein schon der Erhalt eines Schengen-Visums, das sie in Indien beantragen müssen – auch da werden wir natürlich dabei sein. Unser ursprünglicher Plan, bereits diesen Winter alles drehen zu können – auch in Europa – ist leider nicht haltbar, ein Teil wird erst im kommenden Winter 2019/20 machbar sein. Wenn sie ausreisen können, dann wollen wir zunächst in Slowenien drehen, wo das Training beginnt. Danach möchten wir aufgrund der guten Schnee- und Pistenverhältnisse in Österreich weitermachen und auch bei einem Weltcup-Rennen dabei sein. Der letzte geplante Drehort ist Finnland, wo der Schisport oft im Dunklen bei Scheinwerferbeleuchtung betrieben wird.

War die Idee, dass die Mädchen nach Europa kommen sollen, immer Teil des Filmkonzepts?

Haidy Kancler: Das ist einfach erklärt. Die Möglichkeiten zum Schifahren sind in Afghanistan sehr eingeschränkt. Die Mädchen wollen so richtig Schi fahren. Es gibt aus Bamyan zwei Männer, die es ziemlich weit gebracht haben und die man als Pioniere im afghanischen Schisport bezeichnen kann. Durch sie ist den Mädchen klar geworden, dass man nach Europa muss, um in diesem Sport ernsthaft voranzukommen. Es verlangt auf Dauer zu viel Energie, fürs Training ohne Lift den Berg hochzusteigen.

Sie haben zuvor schon erwähnt, dass es Ihnen um einen reziproken Blick auf die jeweilige Kultur und auch den Zugang zu diesem Sport geht. Wofür ist aus Ihrer Sicht der Schisport eine Metapher?

Haidy Kancler: In Afghanistan steht der Schisport definitiv für Freiheit und Freude. Bei uns sehe ich auch die Freude an der Bewegung, aber sehr stark den Wettbewerbsgedanken und natürlich auch das Business, das damit verbunden ist.

Was bedeutet Skiing in Scarves für Sie, im Kontext Ihrer bisherigen Arbeiten betrachtet?

Haidy Kancler: Skiing in Scarves ist mein erstes internationales Projekt und entsprechend ist es mir auch wichtig. Meine bisherigen Filme sind von der Thematik her sehr unterschiedlich. Ich interessiere mich für Musik ebenso wie für Sport, für Poesie, für Industrial Design … Ich habe schon über die verschiedensten Dinge erzählt. Wenn ich mich für ein Filmprojekt entscheide, dann steht nicht ein Thema im Vordergrund, sondern es geht mir um die Geschichten von Menschen, die mich inspirieren. In meinem letzten Film ging es um einen slowenischen Free Diver, der den bestehenden Weltrekord brechen wollte, was ihm nicht gelungen ist. Es war eine gefährliche Sache und mein Protagonist ist im Zuge des Films und dieser Rekordjagd zu dem Schluss gekommen, dass es Dinge in seinem Leben gibt, die ihm wichtiger waren und für die er nicht alles aufs Spiel setzen wollte. Auch in Skiing in Scarves wird es nicht um objektive Erfolge im Schiweltcup gehen. Ich habe die Möglichkeit, ein Afghanistan zu erzählen, das nichts mit den üblichen Bildern aus den Medien zu tun hat. Wo sind die Geschichten, wo Afghanistan von dieser Seite gezeigt wird?

Interview: Karin Schiefer
Oktober 2018