Im Gespräch mit Alexandra Schneider

„Nicht nur Christine Nöstlinger, auch ihre Mutter und Großmutter waren Frauen, die auf sehr souveräne Weise ihren Weg gegangen sind.“
Christine Nöstlingers Geschichten für (nicht nur) junge Leser*innen spielen in einer Welt, wie sie ist und nicht, wie sie sein sollte. Erfindungsgeist bestimmt die Sprache, ein feines soziales Sensorium die Themen. Wer diesen unverwechselbaren Kosmos, der sich in weit über 100 Büchern entfaltet hat, heute für überholt hält, weil es darin keine Handys gibt und mit Schillingen bezahlt wird, unterschätzt Nöstlingers treffliches Gespür für die Sorgen der jungen Seele und die universelle Weitsicht ihrer Themen. SOWIESO UND ÜBERHAUPT, Alexandra Schneiders Portrait über die eminente Kinder- und Jugendbuchautorin, ruft dies in Erinnerung und setzt Nöstlingers Oeuvre in einen aktuellen Kontext.
Wer ab 1970 in Österreich die Volksschule oder frühe Unterstufe besucht hat, der ist an Christine Nöstlinger nicht vorbeigekommen. Wie sieht Ihr persönlicher Bezug als junge Leserin zu ihr aus?
ALEXANDRA SCHNEIDER: Als Kind und Jugendliche war ich eine begeisterte Leserin. Meine Schwester und ich haben zuerst die Zweigstelle in unserem Grätzel leergelesen, dann durften wir mit dem Bus zur Linzer Hauptbücherei fahren und haben uns dort durch die Jugendliteratur geackert. Ich habe in der Woche bis zu zehn Bücher gelesen; die von Christine Nöstlinger bedeuteten für mich einen wichtigen Anknüpfungspunkt ein Sich-verstanden-Fühlen. Ich bin mit sieben mit deutschen Eltern nach Österreich gekommen, ich kannte Dinge wie Strohhalm oder Mistkübel nicht und unter einem Kasten verstand ich etwas ganz anderes. Da waren die Bücher in österreichischem Deutsch sehr hilfreich. Dazu kam, dass ich bei vielen Themen gut andocken konnte: Auch ich bin oft heulend vor Wut aus der Schule gekommen, weil wir eine Lehrerin hatten, die ungerecht war, besonders gegenüber Kindern aus unteren sozialen Schichten, das konnte ich damals so nicht benennen, aber ich habe mich in Nöstlingers Geschichten wiedergefunden. Als Jugendliche habe ich mich in den Geschichten mit Mutter/Tochter-Konflikten sehr verstanden gefühlt. Es war sehr tröstend zu lesen, dass auch andere ihre Mütter teilweise doof finden; es ist ja doch ein Tabu, schlecht über die Mama zu reden. Ich hatte gefühlt den Eindruck, alles von ihr gelesen zu haben, doch da hatte ich mich getäuscht, denn in der Recherche hat sich herausgestellt, dass sie mehr als 160 Bücher geschrieben hat. Doch von der Kindheit bis heute geblieben ist meine große Liebe zu ihrem Werk.
Wie wurde aus dieser Begeisterung für eine Autorin ein Filmprojekt?
ALEXANDRA SCHNEIDER: Ich habe mich mit meiner Produzentin Katharina Posch, die auch die beiden Kinderfilme Geschichten… und Neue Geschichten vom Franz produziert hat, unterhalten und dabei stellte sich heraus, dass ein Dokumentarfilm über die Autorin schon ein lang gehegtes Projekt war, weil sie meine Begeisterung für Nöstlingers Werk teilt. Außerdem gibt es kein längeres filmisches Porträt über sie. Ich hielt das für eine tolle Idee, weil ich Christine Nöstlinger auch persönlich für eine sehr spannende Frau halte, die Humanismus und Feminismus mit einer feinen Klinge und mit viel Humor, auch sich selbst gegenüber, zelebriert. Aus diesem zufälligen Gespräch entstand das Gefühl, dass wir uns zum Thema Christine Nöstlinger gefunden hatten.
Unter den herausragenden österreichischen Kinderbuchautorinnen ist Christine Nöstlinger gewiss die populärste mit einem enormen Oeuvre und einer medialen Präsenz in sehr breitenwirksamen Medien. Es scheint mir aber nicht nur der nahende 90. Geburtstag ein Motiv für eine Hommage zu sein. Gibt es nicht auch andere Gründe, sie filmisch in Erinnerung zu rufen?
ALEXANDRA SCHNEIDER: Wenn man hier mit Menschen spricht, die zwischen den siebziger und den 2000-er Jahren Kind waren, dann sind sie im Schulbetrieb oder auch außerhalb mit Nöstlinger groß geworden. Jede*r aus diesen Generationen kann Lieblingsbücher nennen oder zumindest etwas mit ihr anfangen. Bei den Kids nach 2000 merkt man, dass ihre Bücher aus den Regalen verdrängt werden. Ich habe einen sehr großen Teil ihrer Bücher für diesen Film nochmals mit dem Blick aus dem Heute gelesen und finde diese Entwicklung unheimlich bedauernswert. Man findet bei ihr eine einzigartige Mischung aus Empathie, Gespür für soziale Ungerechtigkeit und einen Witz, mit dem sie Themen anfasste, die eigentlich in ihrer Grundthematik aktueller sind denn je. Es gibt Hauptfiguren, die mit Übergewicht und Mobbing kämpfen. In Man nennt mich Ameisenbär geht es ums Aussehen, das man als unvorteilhaft erlebt und den Traum von plastischer Chirurgie; in Andreas und die unteren sieben Achtel des Eisbergs geht es um eine Mutter, die ihr Unbehagen im Konsumzwang verdrängt und eine junge männliche Hauptfigur, die sinn- und haltlos durchs Leben stolpert; dieses Sich-nicht-mehr-mit-der-Welt-verbunden-Fühlen halte ich gerade bei männlichen Jugendlichen für ein aktuelles Thema. Sie hat den Umweltschutz aufgegriffen, sich dafür interessiert, wie Kinder soziale Unterschiede erleben und war eine der ersten, die Scheidung und Patchworkfamilien thematisiert hat. Die Themen haben immer noch ihre Brisanz und ich finde es schade, dass ihre Bücher nicht mehr bei den Jugendlichen landen. Der Buchmarkt wird natürlich ständig mit Neuem geflutet. Außerdem spielen selbst Nöstlingers Geschichten, die phantastische Elemente enthalten, in einem realistischen Setting, das von einer Zeit geprägt ist, wo es noch keine Handys gab und man noch Briefe geschrieben hat und werden daher oft als veraltet abgetan. Aber diese einzigartige Mischung, die sie auszeichnet, komplexe, schwierige Themen sehr empathisch und Menschen mit Fehlern sehr liebe- und humorvoll zu zeichnen und dabei eine humanistische Botschaft zu vermitteln, die gibt es in der aktuellen Produktion nicht so häufig. Es ist einer unserer Wünsche, mit diesem Film wieder in den Kosmos Nöstlinger einzutauchen, neben diesem nostalgischen Moment auch wieder bewusst zu machen, dass es sich um Bücher handelt, die man Kindern auch heute vorlesen könnte. Ich bin in keiner Weise für eine Verklärung dieser Zeit, aber ich habe das Gefühl, dass die aktuelle Weltlage so frustrierend ist, dass ihr humoriger und liebevoller Blick guttut und immer wieder darauf verweist, wie wichtig es ist, miteinander im Dialog zu bleiben.
Wie schon erwähnt gibt es an die 160 Bücher Primärliteratur, es gibt aber auch Unmengen an Archivmaterial von Interviews, Korrespondenzen… Wo hat Sie Ihre Recherche hingeführt?
ALEXANDRA SCHNEIDER: Genau genommen nimmt diese Recherche auch kein Ende… Ich habe erst vor wenigen Tagen wieder einmal im ORF-Fernseharchiv recherchiert und festgestellt, dass eine enger eingegrenzte Suche nochmals mehr Treffer auswirft. Zwischen Mitte der siebziger und achtziger Jahre war sie zu unterschiedlichsten Themen in ORF TV-Diskussionen zu Gast, sie war mit dem Radio sehr eng verbunden, hat die Serie Dschi-Dschei-Wischer und unzählige Sendungen konzipiert. Es gibt lange Gesprächssendungen. Wir gehen unsere Filmarbeit, die sehr viel Archivmaterial enthält, nun so an, dass wir mit der Montage begonnen haben und durchgehend einen drehbegleitenden Schnitt haben. Wir schneiden ebenso viele Tage im Monat wie wir maximal drehen. In SOWIESO UND ÜBERHAUPT verweben wir die Gegenwart mit dem Archivmaterial mit Christine Nöstlinger, die ja nur noch durch audiovisuelle Medien zu uns sprechen kann, darüber hinaus gibt es Aufnahmen mit Kindern und Jugendlichen aus der Entstehungszeit der Bücher und auch aus Nöstlingers Kindheit. Aus diesen Äußerungen der Kinder von damals merkt man auch, wogegen sie angeschrieben hat: den Mief, die Engstirnigkeit, die Kinderfeindlichkeit, den Konservatismus und die damals noch „originalen“ Nazis.
Der Film hat den Untertitel „Die Welt der Christine Nöstlinger“. Bedeutet dies, dass sie sich auch sehr für ihr Umfeld interessieren – einerseits die bedeutsamen Menschen, andererseits ist es Wien – seine Menschen, Orte und Sprache, die das Wesen ihrer Literatur ausmachen?
ALEXANDRA SCHNEIDER: Nöstlinger-Geschichten sind in der Regel Stadtgeschichten. Es wird in der Tat ein Film mit Fokus Wien. Auch wenn wir gerade mit den beiden Nöstlinger-Töchtern im Waldviertel gedreht haben, werden 90% der Dreharbeiten in Wien stattfinden. Aufnahmen aus dem heutigen Wien werden sich mit Wien-Bildern aus den letzten neunzig Jahren mischen. Der Film soll sich aus drei Ebenen zusammensetzen: den Interviews mit Christine Nöstlinger selbst; den Gesprächen mit Menschen aus ihrem näheren Umfeld – das sind die Töchter, Verleger, enge Freund*innen, Einordnungen zu Nöstlingers Bedeutung in der Kinderliteratur und der österreichischen Literatur überhaupt. Die dritte Ebene betrifft Menschen – vorwiegend Kinder und Jugendliche –, die in ihren Büchern lesend, an unterschiedlichen Plätzen in Wien sitzen. Diese Ausschnitte sollen wie eine innere Stimme eine Art Kopfkino erzeugen. Es war eine bewusste Entscheidung von mir, die Geschichten als Bücher und nicht als Filmausschnitte vorkommen zu lassen. Ich möchte auch das Buch und das Lesen zelebrieren. Wir drehen gerade vom Kongressbad bis zur Alten Donau die Sommerleseplätze.
Wenn man sich der Literatur und dem Geschriebenen filmisch nähert, ist es immer eine besondere Aufgabe. Wird das Wort – gelesen, geschrieben, gesprochen – eine zentrale Rolle spielen?
ALEXANDRA SCHNEIDER: Es gestaltet sich alles rund um das Wort. Das Spielen mit der Sprache ist so ein zentrales Element in Nöstlingers Werk. Es sind ja nicht nur die Themen so emphatisch gewählt, es ist ja auch ihre Art, sie zu formulieren, so einzigartig. Wir haben manchmal Ausschnitte gewählt, die vom Sprachwitz und der Komik ihrer Beschreibung leben, andere wiederum, wo die Thematik im Vordergrund steht. Meine intensive Beschäftigung mit ihrer Biografie macht mir gerade bewusst, wieviel auch aus ihrem Leben und ihrem Wesen in die Geschichten eingeflossen ist. Jenseits der autobiografischen Bücher entdecke ich immer wieder Details aus ihren Interviews, die sehr stark mit ihren Büchern in Dialog treten.
Christine Nöstlinger, Jahrgang 1936, hat 1970 als Mutter und Hausfrau zu Hause zu schreiben begonnen und ist sehr schnell zur extrem produktiven Erfolgsautorin geworden. Die Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf, besonders von kreativen Berufen, ist eine aktuelle Debatte. Hat Christine Nöstlinger etwas verwirklicht, was bis heute besonders für Frauen keine Selbstverständlichkeit ist?
ALEXANDRA SCHNEIDER: In ihrem Elternhaus ist man den Kindern auf Augenhöhe begegnet – besonders der Vater, aber auch die Mutter, die für ihre Zeit eine moderne Kindergartenpädagogin war. Ihre Schwester und sie wurden von ihren Eltern nie geschlagen. Das war zu Zeiten ihrer Kindheit eine absolute Ausnahme. Kindliche Wut oder Ungerechtigkeitsempfinden, was damals bei Kindern in der Regel weggeprügelt oder zumindest wegerzogen wurde, haben in ihrer Familie Raum bekommen. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass sie in sich eine so reichhaltige Quelle hatte, aus der sie schöpfen konnte. Sie hat selbst betont, dass das einzige Kind, über das sie schreiben könne, das Kind sei, das sie in der Erinnerung an ihre Innenwelt selbst war. Sie entnimmt aus Folgegenerationen die äußere Ausstattung, aber was die Emotionalität betraf, hat sie sich auf ihre eigene Erinnerung verlassen.
Ein weiterer interessanter Aspekt ist der, dass Christine Nöstlinger eigentlich erst später und mehr zufällig Schriftstellerin geworden ist. Sie war ja gelernte Grafikerin, hatte an der Akademie für angewandte Kunst studiert, sie hat aber den Beruf nie wirklich ausgeübt, weil sie sich für nicht gut genug hielt und wurde bald nach Abschluss des Studiums Mutter. Dass sie zu schreiben begann, fußte im Frust, zu Hause festzustecken und „nur“ mehr Hausfrau und Mutter zu sein – „ein Konzept, für das ich mich nie entworfen habe“. Da hat sie sich gesagt „Ich kann ja zeichnen“. Aber so mutig, sich einem Verlag direkt als Illustratorin vorzustellen, war Christine nicht, darum hat sie begonnen, gleich beides – Bild und Text – für ein Kinderbuch zu entwerfen. Sie hat sich eine Geschichte ausgedacht und die ist immer länger geworden und am Ende war Die feuerrote Friederike mit ihren eigenen Zeichnungen entstanden. Sie hat dann noch lange mit sich gehadert, ob es gut genug sei, es einem Verlag zu schicken.
Dann ging es aber Schlag auf Schlag. Das erste Buch war ein Erfolg und sie konnte von der in Österreich verspätet angekommenen 68er-Bewegung profitieren, wo es darum ging, eine neue Pädagogik und andere Kinderbücher zu machen. Die Devise war: Raus aus dem, was der Nationalsozialismus gebracht hatte. Da haben ihre Bücher wie eine Bombe eingeschlagen. Ab diesem Zeitpunkt hat sie Haushalt und Kinder versorgt und unentwegt geschrieben. Stückchenweise hat dann eine Emanzipation stattgefunden, die irgendwann zur Umkehrung der Verhältnisse führte und sie die erfolgreiche Hauptverdienerin in der Familie war. Sie konnte dabei auf eine massive Unterstützung durch die eigene Mutter zählen. Ich sehe zwei spannende Aspekte – die Flucht in die Mutterrolle, wenn die ersten beruflichen Frustrationen kommen, aber auch das Bewusstsein, sich für total gleichberechtigt zu halten und als Mutter und Hausfrau plötzlich zu entdecken, dass es mit der Gleichberechtigung in der Gesellschaft gar nicht weit her ist.
Der Titel SOWIESO UND ÜBERHAUPT ist einem der vielen Bücher entlehnt. Verweist er eher auf die Nöstlinger’sche Sprache oder auf die Zeitgemäßheit, mit der sie Thematiken – in diesem Fall Scheidung und Trennung – aufgegriffen hat?
ALEXANDRA SCHNEIDER: Ja, Christine Nöstlinger ist gerade am Anfang ihrer Laufbahn wegen ihrer „kaputten Familien“ auch sehr angegriffen worden, obwohl Scheidung, Patchwork, Alleinerziehen das realistische Familienbild reflektiert haben. Außerdem waren nicht nur Christine Nöstlinger, sondern auch ihre Mutter und Großmutter Frauen, die auf sehr souveräne Weise ihren Weg gegangen sind – sie hatten uneheliche Kinder, Kinder von mehreren Vätern, haben sich in den vierziger Jahren scheiden lassen. Das Thema des Buchs ist eines, das also auch gut zu Nöstlingers Biografie passt. Und „Sowieso und überhaupt“ umfasst in seiner Lakonie, Nöstlinger’schen Wurschtigkeit und Sprachspielerei auch die riesige Dimension ihres Kosmos’, der kaum ein Thema unbehandelt lässt.
Sie haben eingangs darauf verwiesen, wie die Bücher von Christine Nöstlinger nun unter dem Einwand der fehlenden Zeitgemäßheit aus den Regalen in den Buchhandlungen verschwinden. Wie gehen Sie auf diese Problematik ein?
ALEXANDRA SCHNEIDER: Das erinnert mich daran, dass ich einen vierten wesentlichen Aspekt unseres Konzepts noch nicht erwähnt habe. Wir haben nicht nur Lesende von verschiedenen Büchern aus unterschiedlichen Altersgruppen, sondern auch eine Auseinandersetzung zu Büchern von ihr. Wir sind zur Zeit mit einer Mittelschulklasse im Dialog, angedacht ist eine Diskussion mit Jugendlichen über den aktuellen Schönheitswahn, mit jüngeren Kindern vielleicht etwas im Bereich der Illustration und eine Debatte mit jungen Studierenden der Germanistik zum Thema der Orientierungslosigkeit junger Menschen, aber auch zum Umgang mit Begriffen, die bei Nöstlinger vorkommen, die man mit dem heutigen Bewusstsein so nicht mehr sagen würde. Ich halte es für passend, es mit dieser Generation, der Bewusstsein in der Sprache ein politisches Anliegen ist, zu diskutieren. Ich möchte im Film die Auseinandersetzung mit jungen Menschen zwischen zehn und zwanzig auf verschiedenen Ebenen. Weil es mir ein Anliegen ist, dass jene zu Wort kommen, die es betrifft.
Interview: Karin Schiefer
August 2025