© Elsa Okazaki

 

“Ohne Aufarbeitung wird die Vergangenheit nicht ruhen.”

 

Politische Grenzlinien, die sich nicht mit denen von Sprache und Zugehörigkeit decken, haben Tereza Kotyk zu ihrem Spielfilm DAS AUENHAUS inspiriert. Hannah, ihre Protagonistin, ist in den siebziger Jahren geboren. Eine Kriegsenkelin, deren ungelöste Lebensfragen direkt mit den niemals ausgesprochenen Traumata der Großeltern in Verbindung stehen. Eine Reise ins tschechische Grenzgebiet konfrontiert Hannah mit entscheidenden Momenten im Leben ihrer Mutter und Großmutter und bringt Klarheit in ein diffuses Daseinsgefühl. 

 

DAS AUENHAUS (Arbeitstitel) spielt in einer Grenzregion – ein Begriff, der in geografischer, historischer Hinsicht und natürlich auch im übertragenen Sinn ein interessanter Ansatzpunkt ist. In welchen Grenzbereichen haben Sie den Film situiert?

TEREZA KOTYK: „Grenze“ ist ja auch etwas sehr Körperliches. Wir sind im Film in einer Grenzregion in Tschechien verortet, die früher österreichisch war. Die Grenzen haben sich durch den Zweiten Weltkrieg verschoben, die Menschen sind aber in ihrer Zugehörigkeit und Identität ihren Ursprüngen verbunden geblieben. In Tschechien gab es bis weit in den Norden hinauf österreichische Häuser, Lebensräume, viele kreative Menschen. Ein Dorf in Tschechien konnte sehr international sein, weil sich dort Schnittstellen gebildet hatten. In der Entwicklungs- und Finanzierungsphase von DAS AUENHAUS sind wir immer wieder Menschen begegnet, deren Familien genau diese Grenzverschiebungen durchgemacht hatten und es bedauerten, diese Geschichten nie weiter verfolgt zu haben. Ich wollte daher diesem Thema nachgehen. Parallel dazu bin ich auf den Begriff der „Nebelkinder“ gestoßen. Eine Bezeichnung, die die zwischen 1969 und 1979 geborenen Kriegsenkel betrifft, die als erste die Traumata der kriegsgebeutelten Großeltern auch körperlich durchmachen. Ihre Großeltern haben nie darüber gesprochen, ihre Eltern wussten von nichts und die Enkel erleben es u.a. in Form von Albträumen oder Bildern im Kopf, von denen sie nicht wissen, woher sie kommen. Auch die Grenzen zwischen den Generationen sind also durchlässig. Dabei handelt es sich oft um Menschen, die nicht wissen, wo sie hingehören: Sie tun sich schwer mit Heimat, mit der Jobwahl, mit der Frage der Familiengründung. All dies wird in Deutschland in der Forschung unter dem Begriff der „Nebelkinder“ diskutiert. Mich hat fasziniert, der Frage nachzugehen, warum das in dieser Generation so auftritt. Man hört ja oft den Einwand, wir sollten Vergangenes ruhen lassen! Aber im Grunde fallen in der Gegenwart alle Zeiten zusammen: Wir leben die Vergangenheit und die Zukunft ebenso, weil wir sie vorwegnehmen. Daher mein Entschluss, die Leben von drei Frauen zu erzählen.

 

Die Geschichten Ihrer drei Frauenfiguren – Hannah, Miriam, Viktorie – scheinen wie russische Puppen ineinanderzugreifen. Haben Sie immer nur einen Ausschnitt aus dem Leben jeder Frau herausgegriffen? Wer sind diese drei Frauen?

TEREZA KOTYK: Ich erzähle einen Ausschnitt oder anders gesagt, eine Frau löst etwas aus, und wir schauen uns die Auswirkungen davon bei der Nächsten an. Oft ist es so, dass die junge Generation noch weiß, was damals in der Kindheit passiert ist, aber nicht merkt, dass diese Erinnerung ein anderes Trauma überlagert, das mit einer früheren Generation zu tun hat. Hannah, die Jüngste, ist eine Wildnatur, die auch in der Natur lebt und sich von allen Beziehungen losgelöst hat. Sie begibt sich auf eine Reise von Österreich nach Tschechien und aufgrund dieser Bewegung in die Vergangenheit reist sie zu ihrer Mutter, die in den neunziger Jahren diesen Ort verlassen hat. Wir räumen jeder Frau Respekt für das ein, was sie erreicht hat. Viele unserer Entscheidungen haben Konsequenzen für kommende Generationen. Mit Hannahs Mutter gehen wir noch weiter in die Vergangenheit zurück um herauszufinden, was eine gewisse Zeit und ein bestimmter Ort in der Vergangenheit bei ihnen ausgelöst hat. Je mehr die Jüngste durch ihre Reise den Ort auch als etwas Positives erkennt, umso mehr löst sich etwas. Wir brechen ein Schweigen und hoffen so auch, dass sich die Generationen aussöhnen und diese drei Frauen wieder zu sich und zueinander finden. Grenzverschiebungen haben auch die Überlebensfrage gestellt. Eine Frau wie Viktorie musste sich in den Kriegswirren sehr genau überlegen, mit wem sie sympathisierte, zu welcher Nationalität sie sich bekannte. Ihre Tochter Miriam stand vor der Frage – Wie kann ich in einem System überleben, das ich ablehne? Und ihre Tochter Hannah steht in Österreich vor der Frage, wo sie hingehört.

 

Haben Sie einen persönlichen Bezug zu dieser Geschichte verarbeitet oder vielmehr auf einer breiteren Ebene recherchiert?

TEREZA KOTYK: Beide Ebenen sind eingeflossen. Einerseits hat meine Familie in der Tat in den neunziger Jahren das Haus unserer Urgroßmutter, die in Niederösterreich lebte, zurückbekommen. Mich hat es fasziniert, dass meine Urgroßmutter als Österreicherin nach Tschechien kam, selbstverständlich beide Sprachen gesprochen und dort als Unternehmerin gelebt hat. Nach dem Krieg ist sie enteignet worden, sie hat aber dennoch Wege und Mittel gefunden, dort zu überleben. Als Jugendliche habe ich mich gefragt, was dieses Haus, ihre Geschichte, mit mir zu tun hat. Und habe noch dazu erlebt, dass ich dort anders wahr­genommen wurde als meine Mutter. Dieses Gebiet war in der Vergangenheit ein Stück Österreich. Wir sprechen mit DAS AUENHAUS auch ein politisches Thema an – eine große Geschichte im Kleinen, über die beide Länder schweigen: Das betrifft die österreichischen Besitztümer, die aufgrund der Kriegswirren eingenommen wurden, und auch Österreicher*innen, die vertrieben wurden. Und es kam dort zu Kriegsende zu sehr viel Gewalt, vor allem gegenüber Frauen. Wir brechen einige Tabus auf. Ich halte das für relevant, denn, wenn wir das Schweigen nicht aufbrechen, wird sich die Gewalt wiederholen. Wir sehen es jetzt mit dem Krieg in der Ukraine: Männer werden eingezogen und ermordet, Frauen vergewaltigt und mit ihren Kindern vertrieben. Den Menschen werden ihr Zuhause und die Heimat genommen. Was heißt das für die nächsten Generationen? Wie sollen sie mit dem leben, was ihren Eltern angetan wurde? Ich bin der Überzeugung, dass jede Kriegsgeneration Wege finden muss, mit ihren Nachkommen über das Geschehene zu sprechen, denn ohne Aufarbeitung wird die Vergangenheit nicht „ruhen“.

 

Home is Here lautet der Titel Ihres ersten Filmes, der aktuelle DAS AUENHAUS. Ist die Frage nach dem Zuhause etwas, das Sie in Ihrem künstlerischen Schaffen grundlegend beschäftigt? Wofür steht der Topos des Hauses?

TEREZA KOTYK: Das Haus war eingangs ein großes Thema, das sich aber gewandelt hat. Ich stellte mir die Frage, ob ein Haus überhaupt ein verbindendes Element sein kann. Ich habe festgestellt, dass die Frauen gar nicht so stark von dem Haus geprägt sind, sondern von dem, was sie auf ihrem Weg dorthin erleben. Das Haus kann auch etwas sein, das sie an einem Ort festhält, obwohl man sich längst hätte lösen und befreien können. Ich habe mich für dieses Haus entschieden, weil es den Frauen etwas überstülpt, obwohl sie eigentlich sagen sollten: Hier bleib‘ ich nicht länger, es beschützt mich nicht, es setzt mich einem Dorf aus, das mich nicht mehr haben möchte. Das Haus offenbart die Sehnsucht der Frauen und steht für das, was sie so gerne hätten, das aber nicht das Haus per se ist. Das Haus steht vielmehr für etwas Gefühlbeladenes, weniger für eine Verortung.

 

Wie haben Sie nach den drei Hauptdarstellerinnen gesucht?

TEREZA KOTYK: Ich habe versucht, mit der Frage der Zweisprachigkeit so authentisch wie möglich umzugehen, damit es auch der Geografie des Films entspricht. Ich wusste früh, dass ich für die Rolle der Hannah mit Jeanne Werner arbeiten wollte. Miriam, ihre Mutter, die nach Tschechien zurückgegangen ist, habe ich mit einer tschechischen Schauspielerin – Klara Meliškova – und Viktorie, die Rolle der Großmutter, mit Susanne Michel, besetzt. Klara Meliškova ist in Tschechien ein Top-Star, sie hat eine unfassbare Qualität in subtiler Feinheit mit eingebracht. Für die weiteren Nebenrollen haben wir tschechische Schauspieler*innen, die zum Teil vom Theater kommen, gewonnen. Wir konnten sehr nuanciert und mit viel Humor spielen, dabei auch das Tschechische ein bisschen aufs Korn nehmen. Das besonders Spannende für mich war, mit diesen Schauspieler*innen in verschiedenen Rollen durch so viele Zeiten zu wandern. Ich habe sie deshalb als Typus nur leicht verändert. Ich wollte so auch den Loop der Generationen betonen. Selbst in der Komparserie habe ich für die verschiedenen Jahrzehnte immer dieselben Leute genommen um zu unterstreichen, dass sich die Generationen in den Dörfern nicht wirklich verändern. Dieser Akzent, dass alles gleichbleibt, wenn sich nichts ändert, unterstreicht das Thema des Films visuell noch einmal.

Es ist jetzt im Schnitt die Herausforderung, alle Epochen trotzdem klar nachvollziehbar zu machen. Gleichzeitig sind die Übergänge für mich fließend: Oft gibt es doch Erinnerungen, ohne dass sie etwas mit einem selbst zu tun haben, verschiedene Zeiten fallen zusammen und es ist nicht ganz klar, woher die Bilder im Kopf kommen. So wie auch die geografischen Grenzverschiebungen nicht so eindeutig verlaufen, so möchte ich auch in den Zeiten und im Spiel grenzenlos sein. Es ist mir wichtig zu vermitteln, dass diese Frauen durch etwas angetrieben sind, das sie selbst nicht festmachen können.

 

Das Springen durch die Zeitepochen ist gewiss auch eine spannende Aufgabe für das Setdesign, die Kostüme… Wie hat sich diese Arbeit gestaltet?

TEREZA KOTYK: Meine Szenenbildner*innen Katrin Huber und Gerhard Dohr waren begeistert, denn man kann in ein tschechisches Dorf fahren und dort die 1940-er Jahre, die 1960-er und auch die neunziger Jahre drehen, weil so Vieles erhalten geblieben ist. An vorderster Stelle stand die Überlegung, dass sich das Szenenbild an den vorhandenen Motiven orientiert. Die Herausforderung lag allerdings darin, den Drehplan so zu gestalten, dass man möglichst an einem Ort alle Epochen spielen und quer durch die Zeiten möglichst schnell abdrehen kann. Das war eine enorme logistische Aufgabe. Wir haben darauf geachtet, Unterscheidungen einfach sichtbar zu machen. Ich habe an einem Haus festgehalten, obwohl es ein Schloss war. Es schien mir geeignet, weil wir andere Motive in der Nähe bauen konnten – wir hatten uns ja vorgenommen, die Vorgaben für Green Producing einzuhalten und daher ging es darum, möglichst viele Drehs an einem Ort zu bündeln. Als wir dann endlich das Schloss betreten konnten, haben sich Welten geöffnet. Ich bekomme jetzt noch Gänsehaut, wenn ich daran denke, wie dieser Ort das Drehbuch widerspiegelt. Die ganze Atmosphäre des Films war einfach schon da. Wir mussten sie nicht herstellen, sondern durften sie nutzen und hervorheben.

 

„Bildgestaltung, Kostüm, Maske, Produktion, Regie, Drehbuch, Schnitt…“ – Nicht nur der Plot wird von Frauen getragen, sondern – so scheint es – auch die Entstehung des Films an sich. War das eine bewusste Entscheidung, dass so viele Departments bei DAS AUENHAUS weiblich besetzt sind?

TEREZA KOTYK: Teilweise hat es sich so ergeben, teilweise war es auch eine bewusste Entscheidung. Einerseits kamen aufgrund unserer Koproduktion aus Tschechien Departments, in denen dort „klassisch“ vorwiegend Frauen tätig sind und andererseits waren es bewusste Entscheidungen, weil es mir wichtig war, meinen Frauenfiguren im Film möglichst authentisch – auch aus deren jeweiligem sprachlichen und kulturellen Lebensraum – näherzukommen. Aber es stimmt, wir haben einen sehr hohen Frauenanteil bei diesem Film, besonders in entscheidenden und damit immer noch nicht klassischen Positionen, das war dann doch auch für einige neu und damit gut und wichtig.

 

Wo befanden sich die Drehorte, die diese schnellen Zeitreisen ermöglicht haben?

TEREZA KOTYK: Wir konnten unsere Drehorte sehr kompakt halten, da sich das Schloss gleich jenseits der Grenze in Jaroslavice befand. Dann sind wir weiter in den Norden, in den Nationalpark Moravsky Kras in der Nähe von Brünn, gewandert, das Gemeindezentrum haben wir quasi nebenan in Zbraslav gedreht. DAS AUENHAUS ist eine majoritär österreichische Koproduktion der Plan C Film Wien mit Axman Productions aus Prag, mit der ich schon für Home Is Here zusammengearbeitet habe. Wir haben dennoch großteils in Tschechien gedreht, wo wir an jedem Ort die Historie des Orts, des Films, durchgespürt haben.

 

Hannah bringt mit ihrem Beruf als Rangerin in einem Wolfreservat auch die Natur und damit ein weiteres symbolträchtiges Element – den Wolf – ins Spiel. Wie hat es sich gefügt, dass Hannah mit der Welt der Wölfe in Berührung ist?

TEREZA KOTYK: Hannah ist eine Figur, die das Wilde, das sie in sich trägt, im Außen sucht. In ihrer Familie ist zwar eine innere Wildheit gegeben, aber zu der muss sie selbst erst zurückfinden und sich mit ihr abfinden. Im Zuge meiner Recherche bin ich auf das WolfScienceCenter in Ernstbrunn gestoßen, das mich in meiner Recherche ausgiebig unterstützt hat. Ich wollte den Wolf als Symbolträger dieser frühen Generation, als Figur, die stark nachwirkt und doch das Außen symbolisiert. Ich bin dabei auf die Pianistin Hélène Grimaud gestoßen, die ein Wolfsreservat in der Nähe von New York betreibt. Ihre Reflexionen zum Wesen des Wolfes haben mich sehr inspiriert. Für den Dreh hatten wir zwei aktive „Spiel-Wölfe“: Mit einem haben wir in Ernstbrunn gearbeitet – das war auch ein richtiger Wolf  – , mit dem anderen, einem hybriden Wolf, hatten wir Spielszenen in Tschechien. Ich habe bereits für meinen ersten Film, Home is Here, mit dem tschechischen Tiertrainer Ota Bareš gearbeitet. Und mit seiner Hilfe konnten wir auch alle Spielszenen, vor denen sich zuvor alle gefürchtet haben, problemlos realisieren.

 

Sie befinden sich gerade mitten in der Schnittphase. Die Erzählstruktur von DAS AUENHAUS ist gewiss nicht einfach. Vor welchen Fragen stehen Sie zurzeit mit Ihrer Editorin Barbara Seidler?

TEREZA KOTYK: Wir überprüfen gerade, ob der Wechsel in den Zeiten funktioniert und wie sich der Rhythmus gestaltet. Die Sehgewohnheit, dass man nur einer Heldin nachreist, einen Höhepunkt und dann eine Auflösung erlebt, müssen wir für drei Figuren erfüllen. Und das ist spannend!

 

Interview: Karin Schiefer

August 2023