Der Klang der Alpen

Elke Sasse © Sounding Images

Plädoyer für einen vernachlässigten Sinn

Ist von den Alpen die Rede, dann bringt man damit oft auch wohlbekannte Bilder in Verbindung: einprägsame Gipfel, verschneite Pisten, idyllische Almen. Die Filmemacherin Elke Sasse hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Naturraum abseits der konsumierbaren Freizeitkulisse filmisch, aber nicht nur visuell erlebbar zu machen. DER KLANG DER ALPEN lädt sein Publikum ein, dem Erdboden, dem Nebel, den Winden oder dem Inneren der Bäume zu lauschen, um über die Ohren eine neue Sicht auf eine vom Menschen massiv veränderte Landschaft zu bekommen und mit ihr in Beziehung zu treten.

 

Es gibt in Ihrem Projekt DER KLANG DER ALPEN zwei Ansatzpunkte: Da ist zum einen der Naturraum der Alpen, zum anderen die Idee, eine filmisch-akustische Annäherung zu Phänomenen von Geräusch und Klang zu entwickeln. Wo hat dieses Projekt seinen Ausgang genommen?

ELKE SASSE: Wenn wir an die Alpen denken, haben wir Klischee-Bilder vor Augen: Kuh auf grüner Wiese vor Bergkulisse zum Beispiel. Wenn wir dann dort sind, suchen wir Bestätigung für unsere Bilder. Hartmut Rosa zitiert in seinem Buch Unverfügbarkeit aus einem Rilke-Gedicht: „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort;(…) sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar“.

In diesem Film suchen wir einen Zugang zu den Alpen, der noch Überraschungen und Entdeckungsfreude ermöglicht: Wir nähern uns den Alpen über die Klänge, das haben wir vielleicht noch nie getan und so können wir ein wenig wie Kinder werden, die die Welt neu entdecken. Schon die Recherche für dieses Projekt war eine Entdeckungsreise, ein immer wieder neues Erstaunen über „Wunderwelten“: Ich habe zum Beispiel vorher hunderte Male in Wiesen gelegen. Das war schon immer schön, aber als mir eine Protagonistin die Ohren für die Klangwelten der Wiese öffnete, war das eine Offenbarung. Den Geräuschen im Boden lauschen, in Bäumen hineinhorchen, dem Wind zuhören – jedes neue Treffen mit Protagonist:innen war der Schlüssel zu einer neuen Welt.

Haben Sie einen besonderen persönlichen Bezug zur Bergwelt, zu den Alpen im Besonderen?

ELKE SASSE: Ich bin in der Ebene geboren, aber ich liebe Berge. Mindestens zweimal pro Jahr packe ich den Rucksack und bin in den Bergen unterwegs. Ich brauche dabei keine Highlights, es reicht die Nähe zum Himmel …

Geht es Ihnen in DER KLANG DER ALPEN auch um eine Reflexion über die Beziehung zwischen den Menschen und den Bergen?

ELKE SASSE: Zunächst entdeckten wir bei der Recherche diese verschiedenen Klangwelten. Aber dann kristallisierte sich etwas heraus, das allen Protagonist:innen gemeinsam war: Für viele Menschen sind die Alpen oder Natur im Allgemeinen eine Ressource – für schöne Kulissen, Möbelholz, sportliche Herausforderungen und so weiter. Wir haben ein wenig die Beziehung verloren. Unseren Protagonist:innen, hören den Alpen zu und durch dieses Zuhören entsteht eine Beziehung. Für sie sind die Alpen ein Ort für unvorhersehbare Begegnungen.

Die Idee, Klang zum filmischen Erlebnis und Ereignis zu machen, muss zunächst eine tiefgehende Recherche im Bezug auf die technischen Möglichkeiten, die zur Realisierung beitragen können, mit sich gebracht haben. Wie sind Sie da vorgegangen?

ELKE SASSE: Uns ist es wichtig, den Klang der Alpen möglichst intensiv zu erleben. Darum verwenden wir zum Beispiel Mikrofone, die eine räumliche Abbildung der Klanglandschaft ermöglichen. Einige Protagonist:innen verwenden besondere Mikrofone – beispielsweise um das Innere der Bäume hörbar zu machen oder das Leben im Erdboden. Die Mischung in Dolby Atmos ermöglicht dann ein immersives Erlebnis.

Sie arbeiten in diesem Projekt mit dem Sound-Designer und Ton-Ingenieur Pascal Capitolin. Welchen Zugang zum Klang hat er eingebracht? Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit und wie gestaltet sie sich?

ELKE SASSE: Mit Pascal habe ich schon bei anderen Filmprojekten zusammengearbeitet. Er läuft schon sein Leben lang mit offenen Ohren durch die Welt und macht mit seinen Studierenden Sound-Walks. Pascal hat bei Dreharbeiten die Erfahrung vieler Toningenieure gemacht: Erst kommt das Bild. Ton kommt im besten Fall an zweiter Stelle. Aber Pascal fordert bei jedem Projekt die Aufmerksamkeit für die Tonebene ein. Für die Arbeit an dem Dokumentarfilm A Symphony of Noise von Enrique Sánchez Lansch über Matthew Herbert bekam Pascal den Deutschen Filmpreis für die beste Tongestaltung. Der britische Musiker und Klangforscher Matthew Herbert verwendet in seinen Kompositionen Umweltgeräusche. Also auch hier ging es schon um das Hören. Bei DER KLANG DER ALPEN ist es uns wichtig, noch konsequenter zu sein: Also nicht nur von Klängen zu erzählen, sondern den Film vom Klang her zu denken.

Wenn man selbst kurz brainstormt, dann denkt man an Tierwelt, Pflanzen und Wetterphänomene; die Klanglandschaft, die Sie in DER KLANG DER ALPEN erzählen, ist buchstäblich vielschichtiger. Was versuchen Sie an akustischen Entdeckungen zu erfassen?

ELKE SASSE: Ein Morgenkonzert der Vögel ist ein Wunder, das jede:r erleben kann. Aber wir hören auch in Bereiche, zu denen wir mit bloßen Ohren keinen Zugang haben: In das Erdreich, in das Innere der Bäume. Es geht aber nicht nur um das Abbilden der Klänge, sondern auch darum, was diese Klänge erzählen: Von Vielfalt, aber auch von Veränderung und Zerstörung. Der Klimawandel beispielsweise ist nicht zu überhören.

Sie arbeiten mit mehreren Protagonist:innen: Können Sie jene, die bereits feststehen, kurz beschreiben? Auf welche Art wird man ihnen als Zuschauer:in lauschen?

ELKE SASSE: Die Protagonist:innen sind für uns „Ohröffner:innen“ oder auch „Türöffner:innen: Sie nehmen uns mit zu ihren ganz besonderen Klangwelten: Zum Beispiel Marine Rivoire. Sie sensibilisiert uns für die Feinheiten der Klänge: Wie klingt der Nebel, wenn er kommt und wie, wenn er geht? Sie lebt ganz im Klang, denn sie sieht nicht und ihr Hörsinn ist geschärft. Marcus Maeder steckt Mikrofone in den Boden – und plötzlich eröffnet sich eine neue Welt, an der – beziehungsweise auf der – wir normalerweise vorbeigehen. Alexander Agethle hört seinen Kühen zu, aber er hört auch Veränderungen in der Landwirtschaft. Ludwig Berger nimmt mit seinen Mikrofonen das Schmelzen der Gletscher auf. Oder Fernand Deroussen: Er dechiffriert die Klanglandschaft. Für ihn hat ein Vogelruf nicht nur einen speziellen Klang, er vermittelt auch eine Botschaft. Mit den Protagonist:innen entdecken wir ihre Klangwelten und sie verraten uns, was ihnen die Klänge erzählen.

Eine Dramaturgie für einen Film zu entwickeln, der die Ebene des Sounds in den Vordergrund rückt, stellt gewiss besondere eine Herausforderung. Muss man hier nicht eher von einer Komposition im musikalischen Sinne sprechen.

Kehren Sie ein Prinzip des Filmemachens um, dass sich hier die Bilder in den Dienst der Klänge, des Sounds stellen?

ELKE SASSE: In DER KLANG DER ALPEN ist der Ton dem Bild nicht untergeordnet. Er ist eigenständig und geht eher voran – oder eigene Wege: Vielleicht sehen wir die Baumkronen eines Bergwaldes – und hören ins Innere der Bäume oder die allgegenwärtigen Flugzeuge der Schweiz. Wir hoffen, dass die Klänge sich am Ende zu einer Art Komposition zusammenfügen, dass niemand Musik vermisst. Denn eine Musikspur soll es in dem Film eigentlich nicht geben. Dafür sehr viel „Naturmusik“.

Vor welcher besonderen Aufgabe wird die Kamera stehen? Wie soll die Kamera dem Klang begegnen?

ELKE SASSE: Es ist eine besondere Herausforderung, eine Bildsprache für diesen Film zu entwickeln. Da lauern sehr viele Fallen, denn wir alle haben Klischeebilder vor Augen und wenn man einfach eine Kamera vor einer Bergkulisse aufstellt und auf den Auslöser drückt, hat man garantiert ein „Klischeebild“. Unsere Bilder müssen eine Durchlässigkeit haben, damit die Klänge zum Zug kommen, denn Sehsinn und Bilder sind gemeinhin dominant. Vor allem aber muss die Kamera eine „Entdecker:innenhaltung“ einnehmen: Nicht mit Gewissheiten belastet in die Welt schauen, nicht „festhalten“ wollen. Eher ein wenig wie ein Kind, das die Welt neu entdeckt. Wie und ob uns das gelingt? Mal schauen …

Ein schönes Erlebnis hatten wir bei einem Vordreh mit Marine Rivoire im letzten Jahr. Das war noch die Experimentierphase: Wie können Bilder aussehen, die noch nichts „wissen“ sondern „entdecken“? Nach dem Frühstück auf der Berghütte traten wir vor die Tür und sahen – nichts: Der Nebel ermöglichte allenfalls eine Ahnung von der visuellen Welt vor der Hütte. Wir haben Kamera und Ton ausgepackt und den Nebel gefilmt. Gleichzeitig gab es sehr präsente Geräusche – Kuhglocken, Wassertropfen, Wind in den Bäumen. Wir konnten sehr konzentriert hören und mit der Kamera die Klangquellen suchen: Kurz auftauchende Kühe im Nebel, eine Baumkrone … Es war diese Suchbewegung, wie wir sie uns für den Film wünschen.

(Zu)Hören ist stärker als Sehen eine Sinnesleistung, die mit einem In-Beziehung-Treten verbunden ist. Wie sehr geht es Ihnen auch darum, grundsätzlich für eine Wahrnehmung der bzw. eine Achtsamkeit gegenüber der Umwelt zu sensibilisieren?

Was hat die bisherige Arbeit für Sie selbst an Entdeckungen, an Bewusstwerdung bedeutet?

ELKE SASSE: Seitdem ich an diesem Film arbeite, laufe ich mit weit geöffneten Ohren durch die Welt. Es ist wie eine neue Dimension. Früher fand ich den Spazierweg von meinem Landhaus immer ein bisschen langweilig, jetzt ist er jeden Tag neu. Jeder Weg, jeder Ort kann plötzlich zu einer Entdeckungsreise werden. Pascal macht mit seinen Studierenden Soundwalks – und danach sind die Ohren offen … Zuhören verlangt eine bescheidene, zugewandte Haltung – in der Kommunikation genauso wie in der Natur. Ich muss mich einlassen und mich vielleicht überraschen lassen. Und wir hören 360°. Wenn wir uns dessen gewahr werden und die Ohren weit öffnen, können wir uns „im Klang“ erleben, in Beziehung und als Teil unserer Umgebung. Das ist etwas, was vielen Menschen verlorenging.

Wie klingt z.B. ein Gletscher? Mit welchen Mitteln können Sie für die Betrachter:innen des Films nie bewusst wahrgenommene Klänge erfassen?

ELKE SASSE: Auch mit bloßem Ohr kann man auf einem Gletscher das Schmelzwasser fließen hören. Und wer intensiv hinhört, wird überall etwas hören, was vorher nicht bewusst wahrgenommen wurde. Es geht also auch um eine „Anleitung zum Hören“, ein Plädoyer für diesen vernachlässigten Sinn.

Aber unsere Protagonist:innen machen uns auch verborgene Klangwelten zugänglich: Wenn Ludwig Berger seine Unterwassermikrofone in eine Spalte gleiten lässt, hört man auch verborgene Klänge: Die Luftblasen, die sich auflösen. Perkussive Laute.

Wie wichtig ist Ihnen neben einem akustisch bereichernden Zugang zur bestehenden Natur, eine scheinbare Idylle auch als Trugbild zu entlarven und einen kritischen Weckruf zu tätigen, der die Eingriffe des Menschen in die Natur und auch die unwiederbringlichen Konsequenzen vor Augen führt?

ELKE SASSE: Da muss man nichts „entlarven“. Es reicht, einem Postkartenbild der Alpen die reale Tonspur hinzuzufügen. Bei unseren Recherchereisen haben wir ein Treffen französischer Audio-Naturalisten besucht. Begeistert folgten sie einem Vortrag zu technischen Filtermöglichkeiten, um ihre Naturklänge von Flugzeug- oder Straßengeräuschen zu befreien. Klänge erzählen sehr viel, auch Dinge, die man vielleicht nicht sieht: Zum Beispiel erzählen sie über das „akustische Anthropozän“, also die Allpräsenz von menschlichen Geräuschen in diesem Naturraum: In der Schweiz kann man wunderbar idyllische Bilder machen – aber auf der Tonspur sind Flugzeuge. Die Geräusche von Motorrädern werden in den Bergen kilometerweit getragen, auch den Verkehr im Tal hört man noch oben am Berg. Erst wenn eine Bodenwelle eine akustische Barriere bildet, ist das Tal verschwunden. Man hört auch Veränderungen: Es fällt uns vielleicht nicht auf, dass in den Bergwiesen weniger Heuschrecken sitzen – aber wir hören es. Und wenn man Leute darauf aufmerksam macht, fällt es ihnen sofort auf: „Ja stimmt, die Wiesen meiner Kindheit klangen anders …“ Diese hörbaren Veränderungen erzählen wir mit, aber vor allem geht es uns um eine andere Art der Begegnung.

Im Konzept des Films ist auch von einer Tonspur des Klimawandels die Rede. Wird der Film eher auf einer düsteren oder einer helleren Note enden?

ELKE SASSE: Menschgemachte Veränderungen sind in den Alpen hörbar, unüberhörbar. Die Insekten sind leiser geworden, das akustische Anthropozän ist allgegenwärtig, die Gletscher schmelzen. Aber noch hören wir sie und noch gibt es diese unglaublichen Wunderwelten – und Stille. Also keine Totenstille, sondern lebendige Stille.

 

Interview: Karin Schiefer

April 2025