Im Gespräch mit Isa Willinger
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„Viele Filme wurden viel zu wenig gezeigt oder zu schnell wieder vergessen.“
Die Filmemacherin Kira Muratova hat Isa Willingers forscherisches Gespür immer wieder herausgefordert – eine wissenschaftliche Studie und ein Buch über sie zeugen davon. Doch war da noch etwas. Ein in einem umfassenden Interview geäußerter Gedanke der Regisseurin, dem nicht sogleich der Fokus galt, der aber lange nachhallte: Es seien nicht die Männer, sondern die Frauen, die eigentlich die härteren Filme machten. Ein Denkanstoß, den die Filmemacherin Isa Willinger nun in ihrem neuen Film auf den Prüfstand schickt. NO MERCY – DER GNADENLOSE BLICK ist eine Reflexion aus erster Hand, in der sie zahlreiche Filmemacherinnen zu den Facetten der Rebellion im Bild zu Wort kommen lässt.
Einen Anstoß zu Ihrem Filmprojekt NO MERCY – DER GNADENLOSE BLICK hat ein Zitat von Kira Miratova geliefert, das – kurz gefasst sagt – Frauen würden die härteren Filme machen. Erinnern Sie sich an Ihre eigenen Momente der Bewusstwerdung, als Sie feststellten, wie stark unser filmisches Sehen von einer männlichen Perspektive geprägt ist? Wie hat sich daraus Ihr forschendes und filmemacherisches Interesse entwickelt?
ISA WILLINGER: Das liegt wirklich schon sehr lange zurück. Ich habe vor der Filmschule Geisteswissenschaften studiert, davon ein Jahr in New York. Dort war es auch, wo ich die Filme von Kira Muratova entdeckt habe, der zu jener Zeit eine Retrospektive im Lincoln Center gewidmet war. Beim Sehen dieser Filme habe ich eher vage wahrgenommen, dass es eine für mich ungewohnte, feministische Tonart gab, die aber schwer zu greifen war. Es war keineswegs in den Dialogen offensichtlich, aber irgendetwas steckte drinnen. Irgendetwas war anders als in den Filmen, die ich normalerweise kannte – und das war ja das Mainstream-Kino, das damals zu 99% männlich geprägt war. Mittlerweile ist das ja ein bisschen anders. Diese Erfahrung hat mich so neugierig gemacht, dass ich damals beschlossen habe, meine Magisterarbeit über Kira Muratova zu schreiben und zu ergründen, worin der feministische Aspekt in ihrer Arbeit liegt.
Wann ist es dann zur persönlichen Begegnung mit ihr gekommen?
ISA WILLINGER: Das war noch mal einige Jahre später, als ich mithilfe eines Stipendiums die Gelegenheit hatte, ein Buch über sie zu schreiben. Ich habe sie bei ihr zu Hause in Odessa interviewt. Das war eine sehr schillernde, aber nicht unkomplizierte Begegnung. Ich hab sie ein erstes Mal angerufen, wo sie sich zwar bedankt hat, aber offen gelassen, ob wir uns treffen können. Bei meinem zweiten Anruf war sie schon etwas kratzbürstiger und beim dritten Mal, als ich einen Termin fixieren wollte, hat sie mir ziemlich ungehalten vorgeworfen, warum ich denn nicht einfach nach Odessa gekommen sei, um das Interview mit ihr zu machen; sie wollte sich nicht festlegen und hat aufgelegt. Es blieb mir also wirklich nichts anderes übrig, als auf gut Glück einen Flug nach Odessa zu buchen und sie vom Hotel aus anzurufen. Eine halbe Stunde später saß ich an ihrem Küchentisch.
Wo lässt sich Kira Muratova in der Filmgeschichte einordnen?
ISA WILLINGER: Man kann sagen, dass sie die wichtigste weibliche Regisseurin der Sowjetunion und der postsowjetischen Periode der 1990er und 2000er war. Sie hat seit den späten sechziger Jahren Filme gemacht. Ihre Filme waren von Anfang an ungewöhnlich, mit sehr formalistischen Eigenheiten. Im Schnitt hat sie mit sehr ungewöhnlichen Montagen, mit Wiederholungen und Jump-Cuts gegen jegliche Kontinuität gearbeitet. Man hat ihre Filme als zu formalistisch und bourgeois bezeichnet, sie entsprachen nicht dem sozialistischen Realismus, die Frauenfiguren waren nicht empathisch und freundlich genug und man hat die Filme kaum gezeigt. Kira Muratova wurde immer wieder mit einem Arbeitsverbot von vier Jahren belegt, dann hat sie einen neuen Film gemacht und das Ganze hat sich wieder von vorne wiederholt, bis es mit Perestrojka in den achtziger Jahren ein bisschen freier wurde. Ihr Film Das asthenische Syndrom gilt heute als der letzte verbotene Film der Sowjetunion; obwohl schon Gorbatschow an der Macht war, durfte der Film 1988/89 nicht so gezeigt werden, wie sie ihn geschnitten hatte, weil es eine Szene gibt, in der eine Frau langanhaltend obszön flucht. Der Film wurde aber außer Landes geschmuggelt, auf der Berlinale uraufgeführt und hat dort den Großen Preis der Jury gewonnen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – sie lebte in der Ukraine, in Odessa – hat sie bis 2013/14 regelmäßig Filme gemacht. 2018 ist sie verstorben.
Was war Ihre Reaktion auf Muratovas Aussage, Frauen würden die härteren, von Rache geprägten Filme machen?
ISA WILLINGER: Ich fand es ungewöhnlich und in gewisser Weise auch amüsant. Im Interview bin ich nicht weiter darauf eingegangen, weil ich so viele Fragen an sie hatte. Ich hatte mich besonders für ihre Montagetechniken und ihre Bildsprache interessiert. Ich habe die Sätze zur Härte im weiblichen Kino also so stehen lassen, sie sind aber hängen geblieben und Jahre später in einem anderen Kontext wieder hochgekommen. Ich habe nachgesehen, wie ihre Feststellung genau lautete1 und ich sagte mir, dass es eine sehr ungewöhnliche Beobachtung ist, die viele Fragen aufwirft und Unruhe im Kopf stiftet. Man sollte damit rausgehen und auch andere fragen, ob sie dem zustimmen oder widersprechen, ob sie es anders sehen und dann ließe sich daran eine interessante Diskussion und eine wunderbare Reise durch das Filmschaffen von Regisseurinnen aufhängen.
Wie ist aus diesem sehr forschenden Ansatz ein Filmprojekt entstanden?
ISA WILLINGER: In dem Moment, in dem ich angefangen habe, mich durch das Filmschaffen von Regisseurinnen der letzten Jahrzehnte durchzuschauen. Es gibt ganz großartige Filme und wunderbare Szenen, die auch immer wieder eine besonders schonungslose Haltung in Bezug auf bestimmte Themen beinhalten. Viele dieser Filme wurden viel zu wenig gezeigt oder zu schnell wieder vergessen. Diese Filme teilweise aus der Versenkung zu holen und ihnen einen Platz in unserem kulturellen Gedächtnis zu verschaffen ist natürlich ebenso ein wunderbarer Aspekt von NO MERCY.
Hat vielleicht auch die Goldene Palme an Titane von Julie Durcournau im richtigen Moment die Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt?
ISA WILLINGER: Wir waren schon einige Zeit in der Finanzierung des Projekts, bevor Titane in Cannes gewonnen hat. Aber es war ein sehr schöner Beleg für die These.
Härte ist ein Begriff, den man nicht so eindeutig definieren kann. Geht es bei der erwähnten Härte seitens der Frauen um eine Härte mit sich selbst und ihrer Körperlichkeit oder geht es um eine Härte in Form von Rache den Männern gegenüber. Welche Nuancen gibt es in diesem Begriff?
ISA WILLINGER: Im Begriff der Härte steckt natürlich etwas Physisches drinnen. Ich hab mir als erstes die Frage gestellt, welche Regisseurinnen eigentlich Action-Filme gemacht haben, in denen richtig Blut fließt. Dann hat sich die Reflexion über den Begriff Härte schnell erweitert. Hart kann auch eine spröde, unsinnliche Figur sein. Das ist ja auch ein spannender Aspekt, weil gerade im klassischen, männlich geprägten Kino die Frau als die Verführung und Sinnlichkeit in Person dargestellt wird. Aber in Maren Ades Toni Erdmann ist die weibliche Hauptfigur, Ines, die toughste Figur von allen – eine Businessfrau, die alles hinter ihre Karriere anstellt. Oder man kann zurückgehen auf Chantal Ackermans Jeanne Dielmann, die Hausfrau ist und auch als Prostituierte arbeitet. Chantal Ackermann hat gesagt: „In Jeanne Dielman zeigte ich, dass keine Lust zu empfinden ihre letzte Freiheit war.“ Dass man das Unsinnliche als Revolte begreifen kann, das fand ich sehr spannend. Härte hat eben tausend Facetten – wir können durch diese begriffliche Vieldeutigkeit spielerisch arbeiten, was ich wichtig finde. Trotzdem wird es eine Erkenntnis geben, die ich aber nicht schon verraten möchte.
Durch welche Phasen der Filmgeschichte haben Sie gesichtet?
ISA WILLINGER: Für mich war diese Recherche wie eine zweite Filmschule. Ich war auch schockiert zu entdecken, wie wenige der Filme von Regisseurinnen ich an der Filmhochschule gesehen hatte. Ich habe im zeitgenössischen Kino begonnen, das erschien mir ein logischer Anknüpfungspunkt und habe dann bis in die siebziger Jahre zurückgeschaut. Davor gab es vereinzelt Regisseurinnen, aber man kann erst ab den siebziger Jahren von einer feministischen Filmbewegung sprechen. Erst ab da sind Frauen – immer noch mit sehr viel kleineren Summen als die Männer – überhaupt an die Produktionsmittel herangekommen. Allerdings ist interessant, dass es im Stummfilm relativ viele Frauen in Berufen hinter der Kamera gegeben hat, was später in Vergessenheit geraten ist.
Ein wichtiger Bestandteil Ihres filmischen Konzepts liegt in Gesprächen mit bedeutenden Filmemacherinnen. Wie kam es zur Idee, übers Gespräch an die Fragestellung heranzugehen? Welche Bandbreite an Sichtweisen wollten Sie aufnehmen?
ISA WILLINGER: Die Filmemacherinnen, mit denen ich schon gedreht habe, sind Céline Sciamma, Virginie Despentes, Jackie Buet, die Leiterin des Frauenfilmestivals von Créteil, Apolline Traoré, eine Filmemacherin aus Burkina Faso, die auf der Berlinale war und mit Marzieh Meshkini, einer iranischen Regisseurin, die im Londoner Exil lebt. Die Liste geht natürlich weiter, alle sind noch nicht bestätigt. Für die Auswahl meiner Gesprächspartnerinnen gab es verschiedene Kriterien: Es mussten Frauen sein, die mit dem Thema der Härte und Schonungslosigkeit etwas zu tun haben oder die sich mit einer feministischen Filmsprache stark auseinander gesetzt haben wie z.B. Céline Sciamma, deren Filme ich nicht als hart bezeichnen würde, die sich aber sehr stark mit dem weiblichen Blick im Kino auseinandergesetzt hat. Der Fokus sollte auf zeitgenössischen Regisseurinnen liegen, damit die Diskussion eine Aktualität hat und wir wollten Leute aus verschiedenen kulturellen Kontexten finden und nicht nur eine europäische und amerikanische Perspektive entwerfen.
Welcher Input kam von Jackie Buet, der Festivalleiterin von Créteil, die wohl einen der breitesten Überblicke über das weibliche Filmschaffen hat?
ISA WILLINGER: Mit ihr zu sprechen war in der Tat sehr inspirierend. Sie hatte tolle Erinnerungen an Kira Muratova. Mit dem eingangs erwähnten Zitat der Regisseurin konfrontiert, sagte sie, für sie wären die Filme weniger von Rache geprägt, als von Revolte. Rache sei für sie ein zu unproduktiver Begriff. Wer aber revoltiert, muss ein neues Leben aufbauen, was sie für produktiver hält. Natürlich sagte sie auch, dass Frauen insgesamt ganz unterschiedliche Filme gemacht haben. Das ist mir sehr wichtig, weil wir ja mit diesem Ansatz keine Schublade aufmachen wollen, alle reinpacken, Label draufkleben und wieder zu machen.
Den zweiten wichtigen Teil des Konzepts bilden die Filmausschnitte. Wie wählen Sie diese Ausschnitte aus?
ISA WILLINGER: Ich gehe von verschiedenen Varianten und Ausformungen von Härte aus, über die wir sprechen werden und dem entsprechend werde ich die Ausschnitte auswählen. Es wird darum gehen, einerseits das Gesagte zu illustrieren, aber natürlich auch darum, es visuell weiterzuführen in einen anderen Raum als den der Sprache zu überführen. Das Visuelle ist ja ein multidimensionaler Raum.
Wird es auch Thema sein, den Begriff des female gaze zu hinterfragen?
ISA WILLINGER: Der Begriff des female gaze ist ein bisschen in Verruf geraten, weil er auch wieder auf einem Ansatz beruht, als gäbe es den male gaze hier und den female gaze dort und nichts weiteres. Es geht vielmehr um einen Blick, der einen anderen Blick auf Menschen wirft, viele andere Identitäten zulässt und Beziehungen anders darstellt. Man könnte ihn auch durch other gaze oder queer gaze ersetzen. Ich kann mir auch sehr innovative männliche Regisseure vorstellen – junge Leute, die bereits mit einem ganz anderen Hintergrund an die Sachen herangehen. So gesehen braucht man wirklich bald einen neuen Begriff, weil female gaze ausschließend ist und eine fragwürdige Binarität festmacht.
Wann wird der Film fertig sein?
ISA WILLINGER: Wir sind zur Zeit im ersten Drittel der Drehphase. Niki Mossböck ist meine Editorin, worüber ich mich sehr freue. Wir hoffen, dass wir im Oktober 80% der Drehs absolviert haben und dann mit dem Schnitt beginnen können. Geplant ist, dass wir 2024 fertig werden.
Interview: Karin Schiefer
Juli 2023
1 „Frauen sind Sklaven. Egal in welcher Gesellschaftsform, sie sind Sklavinnen. Man fragt mich oft, ob ich denke, dass es ein unterschiedliches Kino von Frauen und von Männern gibt. Ich war Ende der 1980er Jahre in Créteil auf dem Frauenfilmfestival. Davor dachte ich immer, es sei dumm zu denken, dass Frauen andere Filme als Männer machten. In Créteil habe ich dann sehr viele harte Filme gesehen, überhaupt keine damenhaften. Weil die Frauen Sklavinnen sind, machen Sie rachedurstige Filme. Sie nennen die Dinge bei ihren Namen.“