Ein filmhistorischer Streifzug

Der Beginn

 

Die Geschichte des Dokumentarfilms ist so alt wie die Geschichte des Mediums Film insgesamt. Die allerersten Filmaufnahmen der berühmten Gebrüder Lumière in den 1890er Jahren dokumentierten Szenen aus dem Alltag. Der als einer der ersten Filme überhaupt in die Filmgeschichte eingegangene Kurzfilm La sortie de l’usine Lumière à Lyon (1895) dauerte knapp 50 Sekunden und zeigte in einer einzelnen Einstellung, wie Arbeiter*innen eine Fabrik verlassen. Ihre Schauwerte gewannen Filme des frühen Kinos durch die Abbildung bzw. Nachbildung der Realität, wie unter anderem die Legende rund um die Erstaufführung des Lumière-Films L’Arrivée d’un train en gare de La Ciotat (1895/96) beweist: Angesichts der bewegten Bilder eines herannahenden Zuges sollen damals etliche Zuschauer*innen aus Angst aus dem Saal geflüchtet sein.

 

Der Dokumentarfilm wird zur eigenen Gattung

Nachdem in den Folgejahren sukzessive die gestalterischen Möglichkeiten von Film entdeckt worden waren, begann ab der Jahrhundertwende der Siegeszug des fiktionalen Films – zu den Pionieren zählten etwa Georges Méliès, der mit Le Voyage dans la Lune (1902) das fantastische Potential von Film auslotete, und Edwin S. Porter, der mit The Great Train Robbery (1903) einen wegweisenden Film in puncto Montage-Technik schuf. Von nun an entwickelten sich Spiel- und Dokumentarfilm als die zwei grundlegenden filmischen Gattungen. Die Bezeichnung „Dokumentarfilm“ wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg gebräuchlich zur Zusammenfassung aller Arten nicht-fiktionaler Filme. In diesen Jahren entstand auch Robert Flahertys berühmter Dokumentarfilm NANOOK OF THE NORTH (1922), der das Leben der Inuit in der kanadischen Arktis zeigte und sich dabei der Erzähltechniken des in den vorangegangenen Jahren herangereiften Hollywood-Kinos bediente. Diese bewusst herbeigeführte narrative Struktur des Films ebnete den Weg für ein bleibendes Diskussionsthema im Bereich des Dokumentarfilms – jenes der Authentizität.

 

Der Film als Propaganda-Werkzeug

In den 20er und 30er Jahren wurde das Medium in vielen Ländern zunehmend als Mittel der politischen Propaganda eingesetzt. In Russland etwa entwickelte sich der Dokumentarfilm nach dem Revolutionsjahr 1917 zum wichtigen Medium, um die Ideale des Kommunismus zu verbreiten. Innovative Filmemacher*innen wie Dziga Vertov erprobten aber durch eine experimentelle Herangehensweise gleichzeitig völlig neue Filmtechniken. Berühmt geworden ist unter anderem Vertovs Der Mann mit der Kamera (1929), der mit seinen innovativen Schnitttechniken und seiner Metaebene einen höchst künstlerischen und gleichzeitig der Realität verschriebenen Ansatz darstellte. Im Deutschland der 30er Jahre schuf Leni Riefenstahl mit TRIUMPH DES WILLENS (1934) ein Paradebeispiel für Film als Propagandainstrument. Der Film dokumentierte den Parteitag der NSDAP und war ganz dem nationalsozialistischen Gedankengut verschrieben.

 

Cinéma Vérité und Direct Cinema

Nach dem Zweiten Weltkrieg ging der Dokumentarfilm international völlig neue Wege. Vor allem die neue Generation an Filmtechnik, die wesentlich leichter und mobiler war, bildete die Basis für die von Frankreich (u.a. Jean Rouch) ausgehende Strömung des Cinéma Vérité der 60er Jahre, das sich der ungeschönten Darstellung der Realität verschrieb und den Ansatz vertrat, dass die filmische „Wirklichkeit“ erst durch die Interaktion zwischen Kamera, Gestaltung und dargestelltem Objekt entstehe. Dies war auch der zentrale Unterschied zu der zeitgleich in den USA entstandenen Dokumentarfilmbewegung des Direct Cinema, die danach strebte, die Kamera unsichtbar werden zu lassen.

 

Die 70er und 80er Jahre waren für den Dokumentarfilm auf internationaler Ebene eine Zeit des formalen und inhaltlichen Experimentierens und der politischen Auseinandersetzung. Der feministische Dokumentarfilm erlebte in diesen Jahren eine Blütezeit. Vielfach verfolgten Dokumentarist*innen subjektive, selbstreflexive, essayistische, experimentelle und philosophische Herangehensweisen. Dabei wurden mitunter die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion bewusst verwischt – beispielsweise im Essayfilm SANS SOLEIL (1983) des französischen Schriftstellers, Fotografen und Dokumentarfilmers Chris Marker, der Reiseaufnahmen mit eigenen Erinnerungen und philosophischen Betrachtungen verband.

 

Dokumentationen als Aufdecker von Skandalen

Die 90-er Jahre waren von der weiteren Öffnung des Genres für fiktionale Elemente in Form des „Doku-Dramas“ geprägt – man denke etwa an Errol Morris‘ THE THIN BLUE LINE (1988), ein Film, der das Aufdecken eines Justizskandals durch den Regisseur dokumentierte, wodurch der unschuldig verurteilte Todeskandidat Randall Adams rehabilitiert wurde. Für den Film ergänzte Morris dokumentarisches Material mit Spielfilmszenen, um hinter die geschehenen Ereignisse blicken zu können. Gleichzeitig gewann der Dokumentarfilm insgesamt an Bedeutung als Medium für scharfe Politik- und Sozialkritik. Ein einflussreiches und von Kontroversen begleitetes Beispiel war Michael Moores Bowling for Columbine (2002). Darin nahm der Filmemacher das Massaker an der US-amerikanischen Columbine High School 1999 zum Anlass für eine tiefgehende Kritik an der Waffenindustrie in den USA.

Über die Jahrzehnte der Filmgeschichte hinweg ist das dokumentarische Erzählen immer vielfältiger und hybrider geworden und hat immer wieder neue Wege der Darstellung und Interpretation von Realität hervorgebracht. Durch Streaming-Plattformen wie Netflix & Co haben dokumentarische Filme eine zusätzliche Bühne für ein weltweites Publikum erhalten. Ihren Fixplatz im Kino haben Sie dennoch bis heute nicht eingebüßt. Dies unterstreicht auch ein Blick auf die Kinoproduktionen aus Österreich, die jedes Jahr zahlreiche vielbeachtete Dokumentationen bereithalten.

 

Internationale Doku-Erfolge aus Österreich

 

Vor allem seit den 1990er Jahren haben mehrere österreichische Filmemacher*innen mit ihren Arbeiten international große Aufmerksamkeit und Anerkennung gefunden – darunter Michael Glawogger, der in MEGACITIES (1998) die oft brutalen Lebensbedingungen in den vier Metropolen Mexiko-Stadt, Mumbai, New York und Moskau unter die Lupe genommen hat, oder in WHORES‘ GLORY (2011) einen sozialkritischen Blick auf die Sexindustrie in Thailand, Bangladesch und Mexiko gerichtet hat.

 

 

Hubert Sauper hat sich mehrfach mit den Auswirkungen von Globalisierung und Neokolonialismus auseinandergesetzt und mit Darwin’s Nightmare (2004) jenes für den Dokumentarfilm-Oscar nominierte Werk über die sozialen und ökologischen Folgen der Fischerei am Viktoriasee in Tansania geschaffen. Der von Umweltzerstörung, Überproduktion und Hunger begleiteten globalen Nahrungsmittelproduktion nahm sich Erwin Wagenhofer in seinem weltweit rezipierten Film We Feed the World (2005) an und trug damit zur breiten Diskussion über nachhaltige Landwirtschaft und Ernährung bei.

 

 

Ohne Worte ist es Nikolaus Geyrhalter ebenfalls 2005 gelungen, in Unser täglich Brot die weitgehend entmenschlichten und mechanisierten Schattenseiten der industriellen Produktion von Lebensmitteln zu zeigen. In seinem bildgewaltigen Film HOMO SAPIENS (2016) zeichnete er wiederum ein verheerendes Bild des menschlichen Fußabdrucks in der Natur anhand vom Menschen verlassener Orte auf der ganzen Welt. Ulrich Seidl ist unter anderem für seine radikale Herangehensweise an menschliche Abgründe und Tabus bekannt. Sein Film IM KELLER (2014) beleuchtete beispielsweise die zum Teil bizarren und verstörenden Dinge, die in Österreichs Kellern vor sich gehen. Menschliche Abgründe sind auch das Überthema von Stefan Ruzowitzkys Das radikal Böse (2013), ein Film, der mittels historischer Dokumente, Interviews und nachgestellter Szenen der Frage nachgeht, durch welche Mechanismen normale Menschen im Nationalsozialismus zu Mördern werden konnten. Ruth Beckermann setzte sich in JENSEITS DES KRIEGES schon 1996 mit dem nationalistischen Kapitel in Österreichs Geschichte auseinander, indem sie Reaktionen der Bevölkerung auf die Verbrechen der Wehrmacht dokumentierte.

 

 

In dem bei der Berlinale 2018 mit dem Hauptpreis bedachten Film WALDHEIMS WALZER widmete sie sich der rund um die Präsidentschaft von Kurt Waldheim entflammten Schuldfrage Österreichs während der NS-Zeit.

 

Dokumentarische Highlights im österreichischen Filmjahr 2024

 

 

Im Zuge ihres jüngsten Projekts hat Ruth Beckermann zuletzt eine Wiener Volksschulklasse bestehend aus 25 Kindern und ihrer Lehrerin über drei Jahre hinweg begleitet. Das Ergebnis ist der bei der Berlinale 2024 mit dem Friedensfilmpreis prämierte Streifen FAVORITEN, ein – trotz der angesprochenen Problematiken im heimischen Bildungssystem – ausgesprochen lebensfrohes Portrait einer höchst vielschichtigen Gemeinschaft. Im Mittelpunkt des Films steht das soziale und interkulturelle Lernen der Kinder mit ihren unterschiedlichen Migrationsgeschichten, Fähigkeiten, Hoffnungen und Ängsten. Die engagierte Lehrerin Ilkay Idiskut bildet dabei den haltgebenden Anker und versucht mit Geduld und Zuneigung die Werte des Miteinanders, der Gleichberechtigung und des Respekts zu vermitteln. Am 19. September feiert der mit Spannung erwartete Film seinen österreichischen Kinostart.

 

 

Auch darüber hinaus kann sich die Liste an hochkarätigen Filmdokumentation aus Österreich im Jahr 2024 sehen lassen. Während Nikolaus Geyrhalters STILLSTAND über die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in der Stadt Wien, Leandro Kochs und Paloma Schachmanns THE KLEZMER PROJECT über die geheimnisvolle Tradition der Klezmer-Musik oder Joerg Burgers Archiv der Zukunft über die faszinierenden Arbeitsprozesse hinter den Kulissen eines der größten naturwissenschaftlichen Museen der Welt in den vergangenen Monaten bereits zu sehen waren, stehen spannende Dokumentationen in den Startlöchern: Ähnlich wie ARCHIV DER ZUKUNFT, richtet Hans Guttners Film TIERGARTEN den Blick auf den berühmten Tiergarten Schönbrunn und serviert damit ein umfassendes Portrait eines Hoffnungsortes, an dem die Ideen des Artenschutzes und der Biodiversität im Vordergrund stehen. Ab 4. Oktober läuft der Film in ausgewählten österreichischen Kinos.

 

 

Eine Woche später, am 11. Oktober, startet 24 STUNDEN von Harald Friedl, der anhand einer 50-jährigen, rumänischen Pflegekraft auf das schwierige Leben von 24-Stunden-Pfleger*innen blickt, die für die Arbeit neben der physischen und psychischen Belastung immer wieder eine längere Trennung von der Familie in Kauf nehmen müssen. Auf welche Herausforderungen treffen sie in der täglichen Arbeit, wie halten sie den Kontakt zu ihrer Heimat und welchen Gefahren sind sie in der Branche ausgesetzt?

Einer ganz außergewöhnlichen Lebensgeschichte ist der am 14. November anlaufende Film HUSKY TONI – go ahead nach einem Konzept von Jana und Ulrich Grimm gewidmet: Anton Kuttner, besser bekannt als Husky-Toni, hat als Siebenjähriger eine Leukämieerkrankung überlebt und wurde seither immer wieder vom Krebs eingeholt. Während seines einjährigen Spitalsaufenthalts als Kind bekam er von seiner Mutter ein Buch über Hunderassen geschenkt und verliebte sich sofort in die Schlittenhunde. Im Brandnertal in Vorarlberg hat er sich seinen eigenen Kindheitstraum erfüllt und lebt dort in Ruhe mit seiner großen Familie, die auch 18 Huskys umfasst. Gemeinsam mit seinen Hunden unterstützt er kranke Kinder und ihre Familien dabei, ihre Sorgen zumindest vorübergehend vergessen zu können. Ein bewegender Film, der Hoffnung und Mut gibt.

 

Auch über die anstehenden Kinostarts hinaus sollte der Nachschub für alle Dokumentarfilmfans in den kommenden Jahren gesichert sein, denn die Liste an ÖFI geförderten Filmen, die sich derzeit in Produktion befinden, umfasst rund 50 dokumentarische Arbeiten!

Kinostart: 11.10.2024

24 Stunden

Dokumentarfilm
Regie: Harald Friedl
Kinostart: 19.09.2024

Favoriten

Dokumentarfilm
Regie: Ruth Beckermann
Kinostart: 04.10.2024

Tiergarten

Dokumentarfilm
Regie: Hans Guttner
Kinostart: 09.02.2024

Stillstand

Dokumentarfilm
Regie: Nikolaus Geyrhalter
Kinostart: 14.11.2024

HUSKY TONI - go ahead

Dokumentarfilm, Nachwuchs
Regie: Ulrich Grimm