Der Grat zwischen Festhalten und Loslassen

1992 zwang der Jugoslawienkrieg Nina Kusturicas Familie zur Flucht aus Sarajevo. An einer Sache hielt man jedoch fest, auch als längst klar war, dass es keine Rückkehr geben würde: an der Altbauwohnung im Gründerzeithaus im Zentrum der Stadt. Sie blieb ein Ferienziel, ein Sehnsuchtsort, eine Rückversicherung, dass es einen Ort der Zugehörigkeit gab. Nun hat die Mutter beschlossen, die Wohnung zu verkaufen. Für die Filmemacherin Anlass, diesen Prozess von innen wie von außen zu begleiten. MARIENHOF erzählt von der Entstehungsgeschichte eines besonderen Hauses, von einem früheren Leben und der Begegnung zwischen Mutter und Tochter.

Was ist der titelgebende Marienhof? Wo befindet er sich und welche Bedeutung hat(te) er in Ihrer Familiengeschichte?

NINA KUSTURICA:  Der Marienhof ist der erste von mehreren altösterreichischen Vierkantbauten in Sarajevo, nach dem auch das gesamte Stadtviertel im Herzen der Stadt benannt wurde. Es wurde während der österreichischen Monarchie im Jahr 1885 als so genanntes „Musterhaus“ vom Baumeister August Braun erbaut, der auch die erste Ziegelfabrik Sarajevos gegründet hat. Als Bosnien-Herzegowina beim Berliner Kongress 1878 von den europäischen Großmächten der österreichisch-ungarischen Monarchie zugesprochen wurde, haben sich viele österreichische Firmen in der Region angesiedelt, besonders aktiv war die Bauindustrie. Als ich selbst noch in Sarajevo in diesem Haus gewohnt habe, war es einfach ein schönes Haus für mich. Erst durch die Distanz habe ich begonnen, darüber nachzudenken, warum ich mich in den Wiener Altbauwohnungen so heimelig gefühlt habe. Nach und nach ist mir bewusst geworden, wie verbunden diese beiden Städte waren und es noch immer sind. Der Marienhof ist ein vierseitiges Gebäude mit einem großen, begrünten Innenhof – das erste, das nach einem für die Stadt völlig neuen Modell gebaut wurde. Es war so konzipiert, dass die unteren Stockwerke für geschäftliche Aktivitäten vorgesehen waren, die oberen zum Wohnen. Das war neu. Zuvor war Sarajevo von der osmanischen Architektur geprägt, in der man in einem Viertel wohnte und in einem anderen den Geschäften nachging.

 

Ihre Familie ist in den neunziger Jahren nach Wien gegangen. Haben viele Familien, die weggezogen sind, so wie Sie, ihren Wohnsitz behalten?

NINA KUSTURICA: Die Gründe, die Wohnung zu behalten, haben sich im Laufe der vielen Jahre verändert. Ich bin im Jahr 1992 aufgrund des Kriegs mit meiner Familie nach Wien geflüchtet. Damals war die Marienhof-Wohnung für uns die Wohnung, in die wir gewiss zurückkehren würden. Wir haben die Schlüssel dem Nachbar überlassen und eine Weile hat dessen Familie in der Wohnung gelebt. Eine Zeitlang haben wir gehofft, dass wir zurückkehren würden. Der Krieg hat fast vier Jahre lang gedauert. In Wien hat ein neues Leben begonnen: Studium, Freundschaften, Kinder wurden geboren. Wir haben Wurzeln geschlagen. Irgendwann war klar, dass wir nicht zurückkehren würden, um wieder in Sarajevo zu leben, aber die Wohnung hat uns beschäftigt. Das Haus war von Granaten getroffen worden, es war im Krieg sehr heruntergekommen. Es ging darum, sie wieder bewohnbar zu machen. Die Wohnung in Sarajevo wurde zu einem Sehnsuchtsort, an den wir immer wieder hingefahren sind und wo wir für kurze Zeit „daheim“ spielen konnten und unseren Freund*innen aus Österreich zeigen konnten, wo wir einmal zuhause waren. Kleine Rituale sind wieder wach geworden, kurz ist das Gefühl aufgeflammt, dass man da hingehört. Es war ein Sich-wieder-Verbinden mit Personen, aber auch mit diesen Räumen. Und ich habe entdeckt, dass mein Ich dort ein anderes ist: Eine unbekümmerte Person, eben aus der Teenager-Zeit, ohne die Erfahrungen der Schwere, die danach passiert sind. Dieses Rückkehren war eine Art Nostalgie-Heilkur, die auch mit Arbeit verbunden war, weil immer etwas repariert werden musste. Wir haben die Wohnung manchmal befristet vermietet, aber nie jemandem übergeben. Die Wohnung war auch eine Art Rückversicherung der eigenen Herkunft. Ich konnte mir sagen: „Ich habe mein Zuhause nicht verloren, sondern es gibt da etwas.“ Auch wenn ich mich in Wien sehr zuhause fühle, ist immer noch eine spezielle Verbindung zu Sarajevo da. Vor der Frage – diese Verbindung zu haben oder sie aufzugeben – steht meine Familie jetzt. Darüber mache ich den Film MARIENHOF. Was bedeutet es für meine Mutter, die Anfang 80 ist und, so wie ich es wahrnehme, sich lösen will und diesen Sehnsuchtsraum nicht mehr weiter pflegen möchte? Sie hat mir den Auftrag erteilt, mich um den Verkauf dieser Wohnung zu kümmern.

 

Wie wächst nun der Prozess, auf Distanz eine Wohnung zu verkaufen, mit der Timeline einer Filmproduktion zusammen?

NINA KUSTURICA: Das ist in der Tat sehr herausfordernd, weil man gleichzeitig am Verkauf und am Film darüber arbeitet und die persönliche Geschichte auch zur Erzählung wird. Manchmal habe ich das Gefühl, es sind zwei getrennte Tracks, die immer wieder zusammenkommen. Ich habe vor einigen Jahren damit begonnen, das Konzept zu entwickeln, vor einem Jahr war es so weit, dass ich in Zusammenarbeit mit der Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion zur Förderung einreichen konnte. Davor gab es vom Filminstitut die Stoffentwicklungsförderungen, die mich sehr weitergebracht haben und auch mein eigenes Forschungsprojekt an der mdw Confronting Realities, bei dem es um Auto-Sozio-Biografie im Film geht, hat mich sehr zur Reflexion angeregt.

 

Haben Sie bereits gedreht?

NINA KUSTURICA: Es gab zunächst ein paar Rechercheskizzen. Mit den Dreharbeiten haben wir im Mai 2024 begonnen.  Mich interessiert es, auf die Geschichte der Stadt und ebenso auf uns zurückzublicken, aber auch meine Mutter und mich im Heute zu betrachten. Meine Mutter, die sich auf den Weg macht, Entscheidungen zu treffen, Dinge auszusortieren und zusammenzupacken, Nachbar*innen zu verabschieden, aber auch Makler*innen zu treffen, den Verkauf zu organisieren. Wir schauen uns gemeinsam nochmals an, wovon wir ein Teil waren.

 

Reisen Sie regelmäßig nach Sarajevo?

NINA KUSTURICA: Meine Mutter und ich waren jetzt häufig dort und haben – da dieser Prozess gleichzeitig ein Dokumentarfilmprojekt ist –, gewisse Dinge auch erledigt und den Abschiedsprozess begonnen. Wir sind auf Schätze gestoßen, haben an Türen geklopft, an die wir sonst nicht geklopft hätten, neue Leute aus der Nachbarschaft kennengelernt und auch die Historie entdeckt. Die unglaubliche Verbundenheit europäischer Geschichte hat mich sehr überrascht. Meiner Erfahrung nach – als jemand aus Ex-Jugoslawien in Österreich –  wurde nie mitreflektiert, wie sehr unsere Historien verbunden sind. Ich habe vor allem am Anfang vermittelt bekommen, anders zu sein, eine Fremde zu sein. Im Kontext der europäischen Geschichte wird deutlich, dass man nicht so leicht Grenzen ziehen kann. Wo beginnt eine Geografie? Und endet sie dort, wo die Staatsgrenzen sind? In Wirklichkeit ist alles viel stärker miteinander verwoben. Dem nachzugehen, halte ich für sehr spannend. Wie wird man in der österreichischen Gesellschaft angenommen oder gesehen, wenn man aus einem Land kommt, das in einem inneneuropäischen, imperialistischen Kontext vor gar nicht so langer Zeit okkupiert und annektiert wurde? Da gibt es noch viel zu entdecken, zu thematisieren und zu reflektieren, was es für unsere Familienbiografie und stellvertretend für viele andere bedeutet. Es sind in den neunziger Jahren über 200 000 Menschen aus Bosnien-Herzegowina nach Österreich gekommen, weltweit über eine Million Bosnier*innen geflüchtet.

 

Einmal mehr entpuppt eine persönliche Familiengeschichte ihre politische Dimension. In welche Richtungen sind Ihre Recherchen bezüglich des politisch-historischen Kontextes gegangen?

NINA KUSTURICA: Es tun sich unglaublich viele Wege auf, die man beschreiten kann. Es ist mir wichtig, nur das herauszuarbeiten, was für den Film relevant ist. Ich beschäftige mich auch mit der Geschichte der Familie August und Marie Braun, die mit der Monarchie nach Sarajevo gekommen sind, um ihr Bauunternehmen in Sarajevo zu gründen. Sie wollten nicht mehr weg. Sie haben sich in die Stadt und in das Land verliebt, sie wollten, dass ihre Kinder bosnische Staatsbürger*innen werden. Ihre Geschichte wird im Film immer wieder Thema sein. Ich entdecke viele Parallelen zu meiner eigenen Familiengeschichte. Was bedeutet es, woanders neu zu beginnen, wenn auch unter einem anderen Vorzeichen – bei uns durch die Flucht vor dem Krieg, bei der Unternehmerfamilie Braun mit Unterstützung der Monarchie. Die Migration ist in ganz viele Biografien von Menschen in Europa eingeschrieben, auch wenn gewisse Parteien heute aus politischen Motiven das nicht wahrhaben wollen und so tun, als wären sie seit Jahrtausenden an derselben Adresse. Dem nachzugehen, halte ich für einen spannenden Impuls. Wenn wir in unseren eigenen Biografien zurückschauen, können wir schnell feststellen, dass viele von uns von ähnlichen Erfahrungen betroffen sind. Das klar zu formulieren, liegt mir ganz stark am Herzen. Ich bin immer wieder überrascht, wie viele Gemeinsamkeiten zu Tage kommen. Das ist in der aktuellen politischen Lage besonders spannend. In der Region, die man Westbalkan nennt, setzt sich der Imperialismus in hohem Maße fort, was während der Monarchie auf einer Verwaltungs- bzw. militärischen Ebene begonnen hat, findet sich heute in Bankgeschäften, internationalen Firmen, aber auch auf politischer Ebene wieder, zum Beispiel durch die höchste politische Funktion im Staat Bosnien-Herzegowinas, des international besetzten Hohen Repräsentanten, der die Befugnis hat, Gesetze zu erlassen und auch Politiker*innen zu entlassen.

Alte Machtverhältnisse finden sich in neuen Formen wieder. Was passiert mit einer Region, wenn sie das Gefühl für die Selbstbestimmung verliert und darum ringen muss? Und wie prägen solche Entwicklungen die individuellen Biografien sowie gesellschaftliche Wirklichkeit? Wie ausführlich das im Film thematisiert wird, weiß ich nicht, denn es geht im Film auch um die Begegnung zwischen Mutter und Tochter.

 

Dieser Prozess macht auch die Geschichte Ihrer Mutter deutlich, die als erwachsene Frau mit einem Beruf und als Schauspielerin auch aus ihrer Sprache wegmusste, um einen Neuanfang zu machen. Wie sehr hat Sie auch das beschäftigt?

NINA KUSTURICA: Das zieht sich durch die ganze Geschichte durch, die Flucht ist ein einschneidendes Erlebnis, und auch als eine Frau mit 50, ein komplett neues Leben zu beginnen, ist besonders herausfordernd. Ihr Blick ist ein ganz anderer als meiner, der einer damals 17-Jährigen. All das ist ins Material eingeschrieben, auch wenn wir andere Themen verhandeln.

 

Sie haben entschieden, im Film MARIENHOF drei Generationen einzubeziehen: neben Ihnen und Ihrer Mutter wird Ihre Nichte eine weitere Protagonistin sein. Geht es da auch darum, drei unterschiedliche Bezüge zur Vergangenheit zu eröffnen?

NINA KUSTURICA: Meine Mutter ist Anfang 80 und hat eine unglaubliche Lebenserfahrung. Ich bin an der Frage interessiert, was der Entschluss, die Wohnung zu verkaufen, mit uns macht. Ich gehe eher mit einer Emotionalität, vielleicht einer Sehnsucht und Nostalgie an die Sache heran. Meine Mutter hat einen anderen Umgang damit entwickelt, sie will es durchziehen und nicht so viel darüber nachdenken. Aus diesem Kontrast entstehen sehr schöne Momente. Meine Mutter ist beim Filmprojekt gerne dabei. Sie hat Verständnis dafür, dass gewisse Prozesse ihre Zeit brauchen, weil sie selbst Künstlerin ist. Und als Protagonistin versteckt sie ihren eigenen Charakter nicht. Als Regisseurin habe ich oft genaue Vorstellungen davon, was vor der Kamera passieren soll, aber meine Mutter ist so widerständig meinen Ideen gegenüber. Das ist toll. Sie macht vor allem das, was sie will und das wiederum ist ein schöner emanzipatorischer Vorgang, bei dem ich zuschauen darf. Bei dem ich als Regisseurin nicht alles dem Bild oder meiner Vorstellung unterordne, sondern auch die Gelegenheit habe die Menschen in ihrer Stärke und Eigenart filmisch zu erzählen.

 

Welche Position nimmt Ihre wahrscheinlich in Wien geborene Nichte ein?

NINA KUSTURICA: Sie ist die in Wien geborene Tochter meiner älteren Schwester und eines österreichischen Vaters. Sie ist die erste Person aus unserer Familie, die hier geboren wurde.

Meine Mutter und sie haben ein sehr inniges Verhältnis, auch weil sie beide Schauspielerinnen sind. Meine Nichte ist in ihrer Kindheit und Jugend immer wieder nach Sarajevo gereist und verbindet auch Erinnerungen mit dieser Stadt. Sie sagt, dass sie die Bilder vervollständigen möchte, die ihr der bosnische Teil ihrer Familie vererbt hat. Sie ist aber auch da, um der Großmutter organisatorisch zu helfen und ihr auch emotional zur Seite zu stehen. Das löst auch in ihr viel Befragen und Hinterfragen aus. Was bedeutet es für sie, mehrere Herkünfte zu haben? Und was ist es mit diesem Bedürfnis, einen Ort zu haben, wo man hingehört? Wo kann das sein? Braucht es dafür ein Zuhause? Eine Wohnung? Ein Haus mit Garten? Wie gehen wir damit um?

 

Sie arbeiten mit Kamerafrau Marie Zahir zusammen. Wie gehen Sie in Ihrer Doppelrolle als Regisseurin und Protagonistin mit der Kamera um? Braucht es da eine besondere Komplizin?

NINA KUSTURICA: Marie Zahir ist eine österreichische Kamerafrau, die seit vielen Jahren vor allem international arbeitet. Wir haben schon bei mehreren Theaterproduktionen zusammengearbeitet. Ein gemeinsamer Kinofilm war schon lange ein Wunsch von uns beiden. Marie ist eine Kamerafrau und eine Künstlerin, die inhaltlich und dramaturgisch sehr stark denkt und was bei so einem persönlichen Film auch sehr wichtig ist, als Mensch bereit ist, sich auf unterschiedliche Situationen offen einzulassen. Ihre technische Expertise hilft uns, den dokumentarischen Momenten mit einem liebevollen und gestaltenden, miterzählenden Blick zu begegnen. Ich habe unbedingt eine Kameraperson gebraucht, die intensiv darüber nachdenkt, wofür die Bilder stehen. Was erzählen wir auf der inhaltlichen Ebene, was auf der dialogischen Ebene? Und was erzählt ein Bild, die Cadrage, die Bewegung, wo steht der Mensch im Raum? Wie kann die Kamera den Raum miterzählen? Marie trifft immer wieder eigene und oft intuitive Entscheidungen, auch deshalb, weil vorwiegend auf Bosnisch gesprochen wird. Ihr Zugang prägt das Material und dadurch auch den Film stark. Distanz ist ein wichtiger Punkt, weil es darum geht, dass ein Film entsteht, der eine Allgemeingültigkeit hat. In welchem Moment sind wir persönlich und es berührt einen, und wo kippt es ins Private und auch für den Film Irrelevante? Diese Grenze auszuloten, wird v.a. eine Aufgabe im Schnitt sein, dennoch stehen wir schon beim Drehen vor diesen Entscheidungen.

Wir sind in einer paradoxen Situation: Ich möchte mich von Sarajevo verabschieden, durch die Dreharbeiten kommt alles noch einmal näher. Ich lerne gerade die Nachbarschaft im Haus auf eine Art kennen, wie ich es nie getan habe. Das wirft eine Grundsatzfrage auf: Film hält im strikten Sinn etwas fest, der Film ist aber auch am schönsten dort, wenn er etwas loslässt. Der Grat zwischen Festhalten und Loslassen ist für mich der filmisch so spannende Aspekt daran.

 

Wie weit sind die Dreharbeiten fortgeschritten?

NINA KUSTURICA: Eigentlich würde ich gerne noch jahrelang in Sarajevo drehen, das kann ich dem Produzenten Michael Kitzberger aber nicht sagen. Ich schätze, dass wir einen großen Teil bereits gedreht haben. Es gibt noch die finalen Reparaturarbeiten, Besichtigungen, ein letztes Gespräch mit dem Notar. Und wahrscheinlich eine letzte Fahrt vom Marienhof nach Wien. Was aber jetzt sicher noch bevorsteht, ist Sarajevo im Winter zu filmen. Es ist eine Winterstadt, die ganz magisch im Nebel ist.

 

Interview: Karin Schiefer

Oktober 2024