Im Gespräch mit Anita Lackenberger
„Wir haben eine recht simple Vorstellung vom Nicht-Hören.“
Eine zufällig entdeckte Notiz im Nachlass des unter den Nazis engagierten St. Pöltener Bischofs lenkte Anita Lackenbergers Interesse auf das Schicksal von 42 Kindern, die im Juni 1938 aus dem so genannten Taubstummen-Institut verschwanden. Ein Fund, der ein Filmprojekt zur Folge hat: In WELT OHNE HÖREN? verschmilzt eine historische Spurensuche mit Begegnungen aus der Gegenwart und lässt aus Erfahrungen gehörloser Menschen eine Collage entstehen, die unser gängiges Verständnis vom Hören und Sprechen aufrütteln soll.
Manchmal greift ein Projekt ins andere. Im Fall von WELT OHNE HÖREN? hat Sie ein Projekt mit Schüler*innen ins Umfeld gehörloser Menschen in Österreich und somit in ein neues Filmprojekt geführt. Worum ging es bei diesem Schulprojekt?
ANITA LACKENBERGER: Ja, manchmal fügen sich die Dinge. Während der Pandemie habe ich einen Film gemacht, der hieß „Das Land, der Bischof und das Böse“. Im Zentrum stand der St. Pöltener Bischof Michael Memlauer, im Zuge dieses Projekts habe ich den rund 900-seitigen Nachlass dieses während des Nationalsozialismus sehr engagierten Bischofs durchgearbeitet – er hat 1942 seine Silvesterpredigt gegen Euthanasie gehalten, und zwar als einziger österreichischer Bischof. Dabei habe ich einen handschriftlichen Zettel gefunden, auf dem er seine entsetzte Reaktion darüber festgehalten hat, dass das damals so bezeichnete Taubstummen-Institut im Juni 1938 aufgelöst worden war und die Kinder „abtransportiert“ wurden. Ich machte zunächst diesen Film 2020 fertig, das Thema ließ mich schon nicht mehr los, weil St. Pölten meine Heimatstadt ist und weil sich dieses Institut ganz in der Nähe des Bischofssitzes befunden hat. Ich kam an erste Informationen aus dem Diözesanarchiv: 42 gehörlose Kinder waren 1938 weggebracht worden. Waren sie alle tot? So zynisch es klingt, aber das Euthanasieprogramm der Nazis kam erst wenige Jahre später zum Einsatz. Die Frage, was mit ihnen geschehen war, hat mich ratlos zurückgelassen.
Es gehört zu meinen Herzensprojekten, dass ich alle ein bis zwei Jahre mit der Neuen Mittelschule in Viehofen/St.Pölten (eine Schule mit bis zu 20 Nationen) ein zeitgeschichtliches Filmprojekt erarbeite. Daher war mein Vorschlag, dass die Schüler*innen das Schicksal dieser Kinder aufarbeiten sollten. Wir hatten einen sehr genauen, sehr berührenden Bericht über den Verlauf des letzten Tages im Juni 1938, bevor die Kinder abgeholt wurden. Ich habe das mit den Kindern nachgespielt. Wir begannen zu recherchieren und fanden heraus, dass einige Kinder überlebt haben. Allerdings fiel im selben Moment auch das Wort Sterilisation. Zur Premiere unseres Projekts kamen dann nicht nur die Eltern und SchülerInnen, sondern überraschend auch die lokale Community der gehörlosen bzw. tauben Menschen aus dem Gehörlosenverband Niederösterreich. Mit dabei war auch Lukas Huber, der Verbandsleiter und Generalsekretär des Österreichischen Gehörlosenbundes. Lukas Huber ist bei der Veranstaltung sehr vehement aufgetreten und hat den Standpunkt vertreten: Wie können wir einen Film über das Schicksal dieser Kinder machen, ohne die Community der Gehörlosen miteinzubeziehen? Ich musste ihm Recht geben. An diesem Abend bin ich dank Übersetzung in Gebärdensprache mit ihnen ins Gespräch gekommen. Das war eine zutiefst bewegende Erfahrung. Ich war zwischen zwei älteren Herrschaften, einem Mann und einer Frau, vorgestellt worden, die mir durch eindeutige Gesten zu verstehen gegeben haben, dass manche der Kinder zwar überlebt haben aber kastriert bzw. sterilisiert worden sind. Am Ende unserer Recherchen war klar, dass viele der Kinder überlebt haben, jedoch schwer gezeichnet vom nationalsozialistischen Regime waren. Das war eigentlich der Ausgangspunkt der ganzen Geschichte. Es war eine sehr emotionale Erfahrung für mich zu hören, wie die Menschen ausgegrenzt und stumm gemacht worden waren, ohne die Möglichkeit, aktiv eine Aufarbeitung dieser Erfahrungen in die Mehrheitsgesellschaft Österreichs einzubringen.
Wie hat sich aus diesem Bewusstwerdungsprozess, der einen Bogen zwischen historischen Erkenntnissen und der aktuellen Situation spannt, die Filmidee herauskristallisiert?
ANITA LACKENBERGER: Es gibt Themen, wo klar ist, dass die Zeit davonläuft. Allein in dem kurzen Zeitraum, seit ich mich mit der Thematik beschäftige, sind Menschen von uns gegangen und mit ihnen ihre Geschichten, die nicht festgehalten waren. Wir haben als Gesprächspartner*innen lauter Leute, die sich ausschließlich über ihre Geschichte definieren. Wir wollen nicht nur die dramatischen Aspekte, die mit vielen Schicksalen verbunden sind, ins Licht rücken, sondern es geht mir auch um die vielen jungen Menschen. Ich möchte eine gegenwärtige Komponente einbringen, indem ich zeige, wie der Alltag mit Gebärdensprache aussieht und wie eine emanzipierte junge Generation mit ihrer Situation umgeht. Das große Thema, das darüber schwebt, ist die Frage Was ist normal? Dazu gehört auch die Debatte um die Implantate, die es ermöglichen, unter Umständen „normal“ zu hören. Es gibt aber Menschen, die die legitime Position vertreten, dass sie sich dieser „Lebens“-Veränderung nicht aussetzen möchten und die Gebärdensprache als ihre Ausdrucksform betrachten. Sie lehnen das Implantat als Bedingung dafür, als „normal“ anerkannt zu werden, ab. Berechtigterweise!
Ist die filmische Umsetzung fiktional oder dokumentarisch oder wird es vielmehr einen hybriden Ansatz mit Reenactments und aktuellen Gesprächen geben?
ANITA LACKENBERGER: WELT OHNE HÖREN? ist ein hybrides Projekt. Ausgangspunkt sind historische Bilder zu verschiedenen Themen, z.B. Wut, Ausgrenzung, Bildungsmöglichkeiten bzw. Emanzipation. Davon ausgehend werde ich gebärdensprachliche Interviews mit Spielszenen mischen. Dazu gehören Alltagsszenen wie ein Barbesuch, Arztbesuche und auch die Demonstrationen für die Anerkennung der Gebärdensprache. Es gilt auch die abscheulichen Geschehnisse nach 1945 zu dokumentieren: Fälle von sexuellem Missbrauch an gehörlosen Mädchen und Buben, von denen man annahm, dass sie nicht darüber reden konnten, Gewaltanwendung zur Durchsetzung von Lippenlesen anstelle der Verwendung der Gebärdensprache, berufliche und schulische Ausgrenzung. Es wird sehr dezent historische Reenactments geben. Wichtig ist mir, die Zeiten verfließen zu lassen. Ich werde damit umgehen, dass historische Reenactments in die Gegenwart führen, sei es über Interviews, sei es über Spielszenen, die in der Gegenwart stattfinden. Ich möchte den historischen Aspekt mit der Gegenwart zusammenlaufen lassen.
Aus welchen Recherchen speist sich die inhaltliche Ebene abgesehen von Ihren Begegnungen im Zusammenhang mit dem Schulprojekt?
ANITA LACKENBERGER: Ich habe im Vorfeld mit einigen Personen ausführliche Gespräche geführt, die die Grundlage für das Drehkonzept gebildet haben. Bei Filmen mit einem dokumentarischen Anteil ist mir wichtig, dass wir dokumentieren. Ich möchte nicht zuviel planen, sondern auch zulassen, dass Dinge erst beim Dreh passieren. Ich werde einige Interviews führen, die sehr zeitaufwändig sein werden, weil wir bei wichtigen Passagen versuchen werden, sie unmittelbar auch optisch umzusetzen. Interessant ist z.B. auch die lange Tradition des Gehörlosentheaters. Die Community hat sich ja bewusst als Minderheitsgesellschaft sehr abgegrenzt, um bestehen zu können. Zurzeit kommen sehr viele Menschen mit Bildmaterial auf mich zu, auch davon arbeiten wir gewisse Dinge in Filmsequenzen um. Ich werde keine durchgehende Erzählstimme haben, sondern es gibt nur die Erzählungen der Menschen selbst – in Gebärdensprache.
Kann man sich den Film als eine Art Mosaik vorstellen?
ANITA LACKENBERGER: So ist es. Es wird ein riesiges Mosaik aus lauter „true stories“, die von den Leuten selbst transportiert werden.
Wie wird sich in der Produktionsphase die Zusammenarbeit zwischen gehörlosen und hörenden Menschen gestalten?
ANITA LACKENBERGER: In einer ersten Entwicklungsphase haben wir unter der Prämisse von Diversity auch darüber reflektiert, wie taube Menschen Teil unseres Projekts werden können. Die Auflage, die ich mir und uns als Team gestellt habe, war die, uns nicht nur mit Menschen und deren Geschichten zu beschäftigen und diese dramaturgisch umzusetzen. Wir schauen, dass wir gehörlose Menschen auch in den Produktionsprozess einbinden. Ich habe mit Lukas Huber eine inhaltlich-wissenschaftliche Beratung, wir werden mit einem Kameramann arbeiten, der gehörlos ist, wir haben zwei Sprachwissenschaftlerinnen aus der Community und da tut sich gerade noch einiges auf, wo wir auf Leute treffen, die mit uns an der Realisierung des Projekts arbeiten werden. Das ist generell etwas, das von unserer Firmenphilosophie getragen wird. Ich habe immer wieder Menschen, die nicht aus der Filmwelt kommen, in unsere Teams geholt. Dieses Projekt ist die Gelegenheit für neue Begegnungen und die Möglichkeit, an einem größeren Projekt zu ordentlicher Bezahlung mitzuarbeiten. Es ist für uns alle im Team nicht einfach, auf beiden Seiten. Gleichzeitig ist es eine einmalige Erfahrung, die ich für sehr wichtig halte. Ein großer Lernprozess für alle Beteiligten.
Welche Sprachen werden in WELT OHNE HÖREN? zu Wort kommen?
ANITA LACKENBERGER: Die Gebärdensprache ist eine unglaublich expressive Form der Kommunikation, wo nicht nur die Gesten, sondern auch die Form, wie man einander beobachtet, miteinander kommuniziert, eine Rolle spielt. Als Filmemacherin muss ich mir Fragen stellen, wie ich das aufnehme; diese Form der Sprache und ihre Artikulation erzeugt auch Ton, den es zu erfassen gilt. Ich erlebe es als unglaubliche Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten mit anderen Fähigkeiten. Das Manko liegt vielmehr in unserem Umgang damit. Derzeit ist mein Plan, dass die Sprachebene ausschließlich in Gebärdensprache mit Untertiteln erfolgt. Das Tonkonzept möchte ich so halten, dass sich das Publikum vorstellen kann, wie Töne von gehörlosen Menschen wahrgenommen werden. Gehörlose Menschen hören ja etwas. Da sind wir noch am Überlegen, wie wir das umsetzen. Ebenso ist noch offen, ob es ausschließlich Untertitel oder auch Passagen mit Voiceover geben wird. Zu Wort kommen werden grundsätzlich nur Menschen, die sich mit Gebärdensprache ausdrücken.
Wenn man den Bogen zu Ihrem Spielfilm Elfi spannt, dann scheint das Thema des Verlustes der Selbstbestimmung, weil Menschen nicht einer Norm entsprechen, Sie immer wieder zu beschäftigen?
ANITA LACKENBERGER: Soziale Ausgrenzung ist ein Riesenthema für mich, besonders von Menschen, die sich ihrer Situation nicht erwehren können. Mich erschüttert immer, wie andauernd diese Prozesse der Ausgrenzung durch die Gesellschaft sind. Gehörlose Menschen durften/konnten bis in die achtziger Jahre die Matura nicht ablegen, außer in einer ganz speziellen HTL, Gebärdensprache wurde 2005 als Sprache anerkannt, in den siebziger und achtziger Jahren mussten Kinder ihre Hände aufs Pult legen, damit sie nicht in Versuchung kamen, sich in Gebärdensprache auszudrücken. Es sind Themen, die immer wieder auf mich zukommen. Bei Elfi, das in den sechziger/siebziger Jahren spielt, dachte ich, dass deren Erfahrung als psychisch kranke Frau lange her ist und dass sich seither viel geändert hat. Dann höre ich von Zwangssterilisationen von tauben Frauen, die nicht sehr lange zurück liegen. Dass man heutzutage solche Geschichten hört, ist für mich unfassbar. Bei ersten Terminen mit gehörlosen Menschen nach der eingangs erwähnten Premierenfeier habe ich auch eine gewisse Aggression mir gegenüber wahrgenommen. Zuerst empfand ich das als unfair, weil ich ja mit Engagement ein Thema aufgegriffen hatte. Bis mir bewusst wurde, wo sollten sie ihren Unmut abladen, wenn nicht bei mir? Auch und gerade, wenn ich auftauche und mich ernsthaft für ihre Erfahrungen und Lebensumstände interessiere! Es steht ihnen auch zu, gegenüber jemandem aus der Mehrheitsgesellschaft ihre Wut zu artikulieren. Es war für mich auch eine sehr heikle Herausforderung bei der Konzipierung des Projekts, wie ich Vieles formuliere. Es klingt vielleicht einfach, es ist aber ein Minenfeld der Sprachlichkeit. Ich habe gefürchtet, dass man mir Ignoranz vorwerfen würde. Ignoranz ist genau der Begriff, der diese Menschen beschäftigt.
Verspüren Sie eine Verantwortung, eine filmische Stimme zu finden, die Ihren Protagonist*innen hilft, sich Gehör zu verschaffen?
ANITA LACKENBERGER: Ja und ich halte das für wichtig. Diese Arbeit beginnt damit, die Sprache zu verändern. Eine Sprache zu finden, mit der wir nicht über gehörlose Menschen erzählen, sondern vor allem mit ihnen erzählen und uns nicht auf eine Mitleidsposition zurückziehen. Es geht um Augenhöhe und um die Diskussion über Dinge, die allen zustehen.
Der Titel WELT OHNE HÖREN? hat ein Fragezeichen. Was hat es damit auf sich?
ANITA LACKENBERGER: WELT OHNE HÖREN? Ist noch ein Arbeitstitel. Die Frage, die ich aufwerfen möchte, lautet: Was heißt hören? Daher rührt das Fragezeichen. Gehörlose Menschen, die eine Minderheit in der Gesellschaft repräsentieren, hören ja auf eine andere Weise, nur entspricht diese nicht der Norm. Ich war mit Menschen mit Hörbehinderung auf einem Konzert, sie hören auch über Vibrationen. Gehörlose Menschen haben oft einen Tinnitus, den sie sehr wohl hören. Wir haben eine recht simple Vorstellung vom Nicht-Hören. Da gibt es Nuancen. Hören diese Menschen nicht oder hören sie anders? Hören sie, wenn sie in Gebärdensprache sprechen mit den Augen? Beim Beobachten von Menschen, die sich in Gebärdensprache unterhalten, habe ich festgestellt, wie expressiv die Augen mitwirken. Es ist eine sehr eingeschworene Gemeinschaft, auch ein Topos, der bei mir immer wieder vorkommt. Als Filmemacherin muss man in einer gewissen Weise Barrieren knacken. Das ist spannend und diese Begegnungen mit verschlossenen Welten mag ich sehr. Und es geht auch um eine umfassende Dokumentation für die Community selbst, es gilt, die Geschichten der Menschen festzuhalten, die derzeit noch in die frühe Nachkriegszeit zurückreichen, bevor diese Menschen von uns gehen. Viele der aktuellen Geschichten beziehen sich auf diese älteren Erfahrungen. Die junge Generation hat nun erstmals die Möglichkeit, sich auf diese Ereignisse und Erfahrungen berufend, Dinge einzufordern. Das ist der Unterschied zu denen, die überlebt haben. Die Überlebenden haben sich für ihr Schicksal auch noch geniert. Jetzt gibt es endlich junge Leute, die sagen: Uns gehört die Welt auch. Uns steht das zu!
Interview: Karin Schiefer
Februar 2024