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“Dass die Hälfte der Bevölkerung eines Landes quasi in Hausarrest sitzt, wird viel zu wenig thematisiert.”

 

Die Machtübernahme der Taliban im August 2021 bedeutete einen tiefen Einschnitt in die afghanische Gesellschaft, vor allem für die eine Hälfte von ihr: Einschränkung der Bewegungsfreiheit für alle Frauen, Ende der Bildung für Mädchen ab zwölf und Beginn einer prekären Situation für die afghanische Botschafterin in Österreich:  Als die Filmemacherin Natalie Halla von Manizha Bakhtari erfuhr, erwachte spontan die Idee zu einem filmischen TAGEBUCH EINER BOTSCHAFTERIN – einer Annäherung an eine private und zugleich politische Person und deren unermüdliche Power, sich für ihr Land und seine Frauen einzusetzen.

 

Ihre erste „Begegnung“ mit Manizha Bakhtari war keine persönliche, sondern eigentlich eine über den Bildschirm. Was hat bewirkt, dass es daraufhin zu einer Kontaktnahme mit ihr und in der Folge auch zu einem Filmprojekt gekommen ist?

NATALIE HALLA: Zunächst hat mich der Fall von Kabul und die Machtübernahme der Taliban persönlich sehr berührt. Vielleicht auch deshalb, weil ich im Vorfeld viele afghanische Flüchtlinge kennengelernt und mich mit dem Land auseinandergesetzt hatte. Ich komme selten dazu fernzusehen, aber der Zufall wollte es, dass ich Anfang September 2021 das ZiB2-Interview mit Manizha Bakhtari sah. Diese Frau, diese Situation, in der sie sich befand, das hat mich total geflasht. Als Juristin interessierte es mich sowohl aus rechtlicher als auch aus menschlicher Sicht, wie es nun mit dieser Botschaft weitergehen würde, die eine Regierung vertritt, die es nicht mehr gibt und die im Namen eines Landes handelt, das jetzt unter der Macht von Terroristen steht. Ich war keineswegs auf der Suche nach einem Filmthema, hatte aber den Impuls der Botschafterin zu schreiben, um mit ihr ein filmisches Tagebuch zu beginnen, dessen Ausgang völlig ungewiss war. So schrieb ich an die afghanische Botschaft und bekam seitens der Botschafterin eine höfliche Absage zum Filmprojekt, aber eine Einladung zu einem Besuch der Botschaft, die ich neugierig annahm. Dieses, unser erstes Kennenlernen, legte den Grundstein für diesen Film und auch für meine Freundschaft mit Manizha Bakhtari.

 

Wer ist Manizha Bakhtari? Wie kam es, dass sie die afghanische Botschafterin in Österreich wurde?

NATALIE HALLA: Vom beruflichen Background ist sie Journalistin und Diplomatin. In Afghanistan war sie zunächst im Ministerium tätig und war dann Botschafterin in den skandinavischen Ländern. Ihr ganzes Leben lang war sie Frauenrechtlerin, immer sehr sozial engagiert. Als sie in Kanada lebte, war sie z.B. aktiv an der Einrichtung von Frauenhäusern beteiligt. Ein knappes Jahr vor der Machtübernahme der Taliban hat sie den Posten als Botschafterin in Österreich übernommen und ist hier in Wien auch die Vertreterin Afghanistans bei der OSZE und der UNO. Das erschien ihr als spannendes Betätigungsfeld, um die Rechte der Frauen zu vertreten, die ja auch vor der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan sehr eingeschränkt waren. Es gab zahlreiche Frauen, die zuvor im diplomatischen Dienst tätig waren, viele von ihnen sind in Afghanistan gestrandet und verschwunden. Manizha hat in den ersten Wochen und Monaten der Machtübernahme verzweifelt versucht, eine Liste von rund hundert Frauen zu erstellen, um sie zu retten. Österreich hat keine einzige dieser Diplomatinnen aufgenommen. Das sind Frauen, die in Österreich sehr viel positiven Input hätten bringen können, weil es der afghanischen Community in Wien guttun würde, starke Frauen zu haben.

 

Das Portrait einer Botschafterin zu zeichnen bedeutet, einerseits das Private und Individuelle, andererseits die Funktion einer Stellvertreterin für alle zu sehen. Welche Abwägungen hat es zu dieser Gratwanderung gegeben? Haben Sie gewisse Grenzen und Linien vorab definiert?

NATALIE HALLA: Es war ein behutsames Herantasten und ein langsamer Prozess. Das unglaubliche Vertrauen, das ich jetzt genieße, habe ich erst im Laufe der Zeit gewonnen. Wir sind von Beginn an darüber übereingekommen, dass nichts in den Film kommen würde, was von ihr nicht freigegeben ist. Klar ist, dass dieser Film einen weiteren Schritt in die Öffentlichkeit und Sichtbarkeit bewirken wird und damit auch eine Gefahr birgt. Das ist ihr bewusst, das will sie aber auch. Manizha gibt ja auch internationalen Medien Interviews und hält nicht mit ihrer Meinung zurück. Eine Diplomatin zu filmen ist etwas anders, als eine Privatperson zu filmen. Da ist immer diese zweite Seite, die Rolle der Botschafterin, und es ist gar nicht einfach, hinter diese Fassade zu gelangen, weil sie aus beruflicher Not­wendigkeit sehr stark ausprägt ist. Als Mensch habe ich sie vor allem dann kennengelernt, wenn die Kamera ausgeschaltet war. Mit der Zeit ist es aber auch gelungen, sehr persönliche Momente zu filmen. Die Gratwanderung war alles andere als einfach, weil es mir immer auch in erster Linie darum ging, sie nicht zu gefährden.

 

Eine Botschaft gilt als sicherer Hafen, wenn rundherum alles ins Wanken gerät. Eine*n Botschafter*in hält man für eine geschützte Person, von der man im Bedarfsfall Schutz erwarten kann. Mit der Schließung der großen Botschaft wird der Film auch Zeuge der Implosion dieses Festungsgedankens. Was haben Sie da mitgefilmt?

NATALIE HALLA: Wir arbeiten seit zwei Jahren an diesem Projekt, wobei ich alleine begonnen habe und nun zusammen mit der Golden Girls Produktionsfirma in einem Team arbeite. Manizha und ihr Botschafts-Team, das sie leider stark hat reduzieren müssen, haben nie aufgehört zu kämpfen. Sie hatte ihre Tätigkeit zuvor in einer prunkvollen Botschaft am Schwarzenbergplatz ausgeübt, die geschlossen werden musste. Die Schlüsselmomente dieses langsamen Untergangs habe ich mitgefilmt. Es war ein wirtschaftlicher Niedergang, in keiner Weise war jedoch ihre Tatkraft davon betroffen. Sie hat nie aufgehört zu kämpfen, nie aufgehört, ihre Funktionen auszuüben. Man kann sagen, dass sie sich von der Botschafterin stärker hin zur Aktivistin entwickelt hat. Dennoch hat sie ihren Status als Botschafterin behalten und füllt diese Rolle aus. Sie hat immer wieder auch gegen Leute innerhalb der afghanischen Community anzukämpfen, die versuchen, ihr diesen Status streitig zu machen. Von den Taliban hat sie natürlich längst ein Absetzungsschreiben bekommen, was sie allerdings ignoriert, da sie diese Regierung nicht anerkennt. Die internationale Community steht großteils hinter ihr. Solange sie von Österreich sowie von UNO und OSZE gewünscht ist, so lange will sie Botschafterin bleiben. Sie wird geschätzt. Es geht ihr nicht um Machterhalt, sondern um die Verantwortung, im Namen der Frauen weiterzukämpfen. Wer sonst sollte es tun, wenn nicht sie? Finanziell überlebt die Botschaft durch die Konsulartätigkeit, auch wenn sie dabei mit Problemen wie fehlenden Pässen zu kämpfen haben und kreative Lösungen finden müssen. Man kann sich kaum die Heizkosten in der Botschaft leisten. Und es ist eine Schande, dass es von österreichischer Seite keine Bemühung gibt, die Sicherheit dieser Frau und dieser Botschaft zu gewährleisten. Es wurde dort noch nie ein*e Polizist*in eingesetzt, obwohl die Polizei mehrmals über Sicherheitsprobleme informiert wurde. Wenn sie morgen tot ist, dann kann man das auch dem fehlenden Polizeischutz hier zuschreiben.

 

Das politische Thema, das den Film bestimmt, ist das Schulverbot, das von den Taliban für Mädchen verhängt worden ist. War es Ihnen wichtig, im Film auch einen direkten Bezug zum Land herzustellen? Ist dieses Thema der Strang, der zum Land zurückführt?

NATALIE HALLA: Zu Beginn des Projekts wusste ich noch nicht, dass es dieses Thema sein würde, das zum Land zurückführt. Man konnte ja 2021 nicht wissen, ob und wie schnell die Schulen wieder geöffnet werden würden. Aber es war klar, dass das filmische Tagebuch auch einen Bezug zum Land brauchen würde, weil es ja nicht das Tagebuch einer einzelnen Person, sondern stellvertretend das eines ganzen Landes werden sollte. So wie die Botschaft langsam am Untergehen war, gilt dies auch für das Land. Ich wollte über mein Portrait von Manizha Bakhtari erzählen, was mit den Frauen und Mädchen Afghanistans passiert. Es war klar, dass es kurz nach der Machtübernahme noch medienwirksame Bilder von überfüllten Flughäfen geben würde und dann würde das Schicksal dieses Landes in Vergessenheit geraten. Dass die Hälfte der Bevölkerung eines Landes quasi in Hausarrest sitzt, wird viel zu wenig thematisiert. Für mich stand fest, dass mein Film auch davon erzählen sollte. Das Mädchen-Schulthema symbolisiert am stärksten die Geschichte einer verlorenen Generation. Die Schulen wurden im August 2021 sofort für die Mädchen geschlossen. Das neue Schuljahr beginnt dort im Frühling, die Taliban hatten versprochen, dass die Schulen im März 2022 wieder für alle geöffnet würden. Die Mädchen gingen an diesem Tag voller Begeisterung wieder zu den Schulen und am selben Tag kam der Erlass, dass die Schulen für die Mädchen über 13 geschlossen bleiben. Ein Schlüsselmoment auch für Manizha. Da ist für die Mädchen eine Welt zusammengebrochen, es gibt Videos mit Interviews, sehr ergreifendes Material, wenn auch in schlechter Qualität, das ich im Film einbauen werde. Die Botschafterin hat begonnen, nach einer Möglichkeit zu suchen, wie man diesen Mädchen konkret helfen kann und hat gemeinsam mit Exil-Afghaninnen in Kanada das Daughters-Programm begründet, eine Art Patenschaftsprogramm für Mädchen im Schulalter: Man überweist ein bisschen Geld, um private Wege des Unterrichtens zu finanzieren. Die Familien bekommen das Geld nur für die Finanzierung der Bildung ihrer Töchter. Dieses Programm müsste man viel stärker ausweiten. Es wäre schön, wenn das in Zusammenhang mit meinem Film geschehen kann.

 

Mit Zhura ist stellvertretend ein Mädchen im Film. Wie wurde sie zur weiteren Protagonistin?

NATALIE HALLA:  Zhura ist eines der Mädchen aus dem Daughters-Programm. Ich habe nachgefragt, ob eine Familie bereit wäre, gefilmt zu werden bzw. sich selbst mit dem Handy aufzunehmen kann, um uns regelmäßig Botschaften zu schicken. Die Bilder werden in der Postproduktion selbstverständlich anonymisiert. Seit einem Jahr bin ich mit Zhuras Familie im Kontakt. Sie ist gerade 15 geworden, ein sehr hübsches, liebes Mädchen, sie schickt immer wieder ergreifende Handybotschaften und filmt auch, unter welchen Bedingungen sie leben, nämlich sehr arm. Zhura verkörpert das Schicksal der Mädchen in Afghanistan. Es findet alles nur hinter den Hausmauern statt. Es wird von ihr nie eine Außenaufnahme geben. Sie darf nur in Begleitung ihres Vaters oder eines Bruders das Haus verlassen. Nie allein.

 

Haben Sie auch in Afghanistan gedreht?

NATALIE HALLA: Es hätte keinen Sinn gemacht, selbst hinzureisen, um zu drehen. Ich hätte nur Menschen in Gefahr gebracht und nicht das drehen können, was ich hätte wollen. Vertreter der Taliban zu treffen, um mich als Propagandamittel instrumentalisieren zu lassen, das war ausgeschlossen. Ich habe daher drehen lassen. Ich habe einen in Pakistan lebenden Fotokünstler über Umwege kennengelernt, der im Sommer einige Monate in Afghanistan war. Er konnte für ihn unverfängliche Aufnahmen machen, Stimmungsbilder, die ich gut brauchen kann.

 

Ein Tagebuch zeichnet äußere Ereignisse und innere Stimmungen auf. Wie werden Sie diese beiden Komponenten formal im Film umsetzen?

NATALIE HALLA: Da bin ich noch am Überlegen, wie wir das lösen werden. Ich möchte für das Tagebuch nur ganz selten Manizhas Off-Stimme zum Einsatz bringen. Sie schreibt das Tagebuch ja für ihren zu Beginn des Projekts noch ungeborenen Enkelsohn, der inzwischen auf die Welt gekommen ist als Zeugnis dafür, was in seinem Land passiert ist, damit es nicht vergessen wird. Ich werde sie nicht beim Schreiben filmen, es wird aber durch die Off-Stimme klar sein, dass es sich um eine Erzählung handelt, die an jemanden gerichtet ist. Die Ereignisse folgen dann so, wie sie passieren. Manizha zählt seit Beginn die Tage, seit die Schulen für die Mädchen geschlossen sind. Diese Zählung wird das Tagebuch auch strukturieren. Die Zahl wird immer wieder vorkommen. Zurzeit (Anfang Oktober 2023) beläuft sie sich auf 782.

 

Ein weiteres Thema, das Teil des Filmes sein wird, sind die politischen Aktivitäten der Exilafghan*innen. Was tut sich da und kann auch filmisch festgehalten werden?

NATALIE HALLA: Manches kann man nicht festhalten, über manches kann ich auch gar nicht sprechen. Etwas wie die Afghanistan-Konferenz, in der es darum geht, alle afghanischen Ethnien und die ganze Bandbreite der afghanischen Intellektuellen an einen Tisch zu holen, um zu überlegen, was gemacht werden kann und wie es danach weitergehen könnte. Es geht um die Erarbeitung einer zukünftigen Verfassung, eines Plans, in dem Menschenrechte, Frauenrechte garantiert werden. Das ist ein tolles Projekt. Ich habe die Konferenz, die ursprünglich hinter geschlossenen Türen hätte stattfinden sollen, in ihrer Gesamtheit mitgefilmt. Darin finden sich sehr spannende Statements, die viele Fragen, die wir alle haben – wie z.B. Wie konnte es soweit kommen? – beantworten werden.

 

Es steht unmittelbar nach dem Interview ein weiterer Drehblock – vielleicht einer der letzen – bevor. Wohin wird es gehen?

NATALIE HALLA: Wir wollen Manizha noch in Wien in ihrer Aktivität als UNO-Delegierte filmen, wenn möglich, während einer UNO-Session. Und noch ein paar kleinere Dinge in Wien. Ich gehe davon aus, dass die Dreharbeiten im Dezember abgeschlossen sind. Jetzt im Oktober geht es nach Tadschikistan, weil ich dort Bilder suche, die für mich den Anfang und das Ende des Films ergeben. Tadschikistan steht für mich nicht nur landschaftlich stell­vertretend für Afghanistan. Dieses Land hat auch eine spezielle Bedeutung für die Bot­schafterin. Sie gehört der tadschikischen Minderheit an, sie liebt dieses Land – ihre Heimat ist Afghanistan, aber Tadschikistan bedeutet schon eine gewisse Nähe. Es freut mich sehr, dass Manizha sich bereit erklärt hat, mit uns zu kommen.

 

Es scheint sich in diesen zwei Jahren eine sehr enge Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Protagonistin entwickelt zu haben.

NATALIE HALLA: Manizha ist ein ganz wichtiger Mensch für mich und ich weiß, dass ich in Österreich eine ihrer wichtigsten Vertrauenspersonen geworden bin. Ich habe sie auch in die USA zum Begräbnis ihres Vaters begleitet, der letzten Sommer verstorben ist. Es wird auch im Film zu sehen sein. Ihr Vater war ein sehr berühmter persischer Dichter. Sein Gedicht Die Sonne stirbt niemals symbolisiert das, was in Afghanistan passiert ist und gerade passiert – mit einem Funken Hoffnung am Schluss des Gedichts als etwas, das von ihrem Vater kommt. Es ist einer der vielen Fäden, die durch den Film führen werden. Im Hintergrund dieses Gedichts sehe ich die Landschaft in Tadschikistan. Deshalb muss ich hin.

 

Interview: Karin Schiefer
Oktober 2023