© Hanna Fasching

 

„Die meisten Gewalttäter kommen ungeschoren davon.“

 

Als Elisabeth Scharang und Kristin Gruber ihre Recherche begannen, war das Wort Femizid in Österreich noch nicht Teil des Sprachgebrauchs, ein Mord an einer Frau ein bedauerliches Familienunglück mit kurzer medialer Beachtung. Näher betrachtet stellt sich heraus, wie selbst in einer westlichen Wohlstandsgesellschaft Opfer unzureichend geschützt, Akte der Gewalt verharmlost, Täter verschont werden. NICHT EINE WENIGER #HowToStopFemicide erfasst Gewalt an Frauen als weltweites System und vernetzt die Stimmen und die Kräfte derer, die rund um den Globus dagegen aufstehen.  

 

Im Regiestatement von NICHT EINE WENIGER #HowToStopFemicide sprechen Sie von Gefühlen wie Zorn und Ungläubigkeit, die Sie zu Beginn Ihrer Recherche begleitet haben. Verbindet sich mit dem Anstoß zu diesem Filmprojekt auch ein bestimmtes Ereignis?

ELISABETH SCHARANG: Begonnen hat es Ende 2019 mit einer gemeinsamen Recherche für eine TV-Doku, die letztendlich nicht realisiert worden ist – das war zu einem Zeitpunkt, an dem der Begriff „Femizid“ in Österreich noch nicht geläufig war. Damals wurden Femizide in den Medien meist als „tragischer Frauenmord“ oder „Ehedrama“ bezeichnet.

KRISTIN GRUBER: Wir konnten von da an bis heute sehr gut mitverfolgen, wie sich die öffentliche Wahrnehmung und Berichterstattung zu Femiziden gewandelt hat.

ELISABETH SCHARANG: Unsere Beschäftigung mit der Systematik von geschlechtsbezogener Gewalt war wie das Öffnen eines Vorhangs: Wir konnten das Ausmaß nicht fassen, dass sich auftut. Man muss hier von systematischen Morden sprechen. Wir stellten uns während der Recherche die Fragen: Warum ist dieses enorme Ausmaß an geschlechtsbezogener Gewalt nicht viel stärker im öffentlichen Diskurs präsent? Warum gibt es, wenn das Phänomen Femizid eine derartige Dimension erlangt hat, keinen permanenten Aufschrei? Wir sind beide nicht nur Filmemacherinnen, sondern auch Journalistinnen, und als solche ist es unser Beruf, eine hohe Aufmerksamkeit für sozialpolitische Fragestellungen zu haben; wenn uns die Fakten zu Femiziden fassungslos machen, wie sieht es dann mit dem Wissen und dem Bewusstsein der breiten Masse aus, die sich nicht in dem Maß damit auseinandersetzt? Zu Beginn unserer Recherchen war ich so wütend, vor allem aber ohnmächtig. Oft werden wir gefragt, ob die Auseinandersetzung mit diesem Thema nicht extrem deprimierend sei. Das Gegenteil ist der Fall. Uns beiden gibt die Arbeit an diesem Film die Möglichkeit, die Ohnmacht gegenüber der Gewalt zu gestalten, zu formen und letztlich auch umzuformen.

KRISTIN GRUBER: In Interventionsstellen und anderen Institutionen und NGOs sitzen Menschen, für die das nichts Neues ist und die seit vielen Jahrzehnten gute Arbeit im Bereich Gewaltschutz machen, deren Stimmen aber nicht so ernst genommen werden, wie es das Problem eigentlich verlangen würde. Auch das erzeugt Wut. In meiner über 20-jährigen journalistischen Laufbahn war ich in der Recherche noch nie mit so krassen Defiziten im System konfrontiert wie bei diesem Thema, sei es in der Gerichtsmedizin, bei Gerichtsverfahren, in der Risikoeinschätzung, bei den Ermittlungen, der Dokumentation, den Statistiken, im Opferschutz oder bei der Täterarbeit. Dort, wo der Wille und das Bewusstsein da ist, fehlt das Geld. Das System ist eine einzige Lücke. In einem reichen Land wie Österreich sind wir weit davon entfernt, dass Betroffene von Gewalt flächendeckend geschützt und grundversorgt werden. Die meisten Gewalttäter kommen ungeschoren davon. Für mich war „das Patriarchat“ lange Zeit ein sehr abstrakter Begriff. In dieser Recherche wurde offensichtlich, dass die systematische Verharmlosung von geschlechtsbezogener Gewalt dazu geführt hat, dass es in jedem Fachbereich an Bewusstsein, Wissen, Professionalität oder finanziellen Mitteln fehlt. Man stelle sich nur vor, es gäbe so viele Terrortote im Jahr wie es Femizidopfer gibt. Was dann in diesem Land los wäre, welche Hebel sofort in Bewegung gesetzt würden, welche Budgets beschlossen werden würden, wer wem den Kampf ansagen würde.

ELISABETH SCHARANG: Ich finde es sehr interessant, wenn Kristin sagt, dass ihr durch diese Arbeit das System „Patriarchat“ in seinen Grundfesten vor Augen geführt wurde. Wenn es um die Frage geht, was für eine Art von Film machen wir zum Thema Femizid, dann spielt das System „Patriarchat“ eine massive Rolle. Mich beschäftigen in diesem Zusammenhang die feministischen Diskussionen innerhalb der Filmbranche, die wir gerade führen – zum Beispiel bei dieRegisseur*innen.  Wo ist der Markt für unseren Film? Und was will dieser Markt? Man hat uns anfangs nahegelegt, dass die Geschichte einer Einzelperson am besten sei, um den Film erfolgreich zu platzieren. Aber der Wunsch, ein einzelnes Gesicht und eine individuelle Geschichte herauszuheben, hat zur Folge, dass wir uns als Zuschauer*innen nicht verantwortlich fühlen und aus sicherem Abstand konsumieren können. Im Zusammenhang mit unserem Thema halte ich diesen Ansatz für sinnlos. Es ist sinnlos, so viel Arbeit in etwas zu stecken, wenn uns das Ergebnis nicht alle miteinander weiterbringt. Also war für uns klar, dass wir zum Beispiel jegliche Möglichkeit einer kulturellen Zuschreibung ausschalten wollen, denn Femizide finden in allen Ländern, allen Kulturen und allen gesellschaftlichen Schichten statt. Die Chance, zu sagen „Das ist in Indien so, weil …“  wird unser Film nicht bieten. Wir reisen nach momentaner Planung in zwölf Länder, um eine Systematik zu zeigen, die überall zu sehen ist, die aber Spezifika hat. Spezifika, die oft überraschend und durchaus nicht nur negativ sind, zum Beispiel wenn es um innovative Gesetze, Aktionen und Lösungsansätze gegen geschlechtsbezogene Gewalt geht. Wir werden Frauen zeigen, die mit viel Mut, Ausdauer und Expertise festgefahrene Strukturen verändern, und wir werden zeigen, warum sich in den meisten Ländern bisher nichts an der Gewalt gegen Frauen* geändert hat: Weil sich politische Vertreter*innen dafür entschieden haben, nichts zu verändern. Und so zeigt sich das Patriarchat.

 

© Elisabeth Scharang

Wie früh oder wie schnell hat dieses Projekt eine internationale Dimension bekommen?

KRISTIN GRUBER: Ganz schnell. Wir haben recherchiert, welche Filme und Reportagen es bereits gab und festgestellt, dass viele Aufarbeitungen nach Schema F aufgebaut sind: Man fokussiert auf einzelne Fälle in einem Land oder einem Kulturkreis. Eine starke Emotionalisierung ist die Folge. Man bekommt zwar durch einzelne Fälle mit, dass im System etwas falsch läuft, aber entwickelt kein wirkliches Verständnis für das Ausmaß und die strukturellen Zusammenhänge. Das Problem dabei:  Das Thema Femizid wird gerne rassistisch vereinnahmt, um so zu tun, als hätte „die eigene Kultur“ kein Problem damit. Die Verantwortung wird auf andere abgeschoben. Wer das tut, muss sich nicht kritisch mit sich selbst beschäftigen. Wir konnten feststellen, dass sich der Westen in der Wahrnehmung der eigenen Lage maßlos überschätzt. Es ist der globale Blick also notwendig.

 

Wie war es möglich, diese unüberschaubare Menge an Facetten in der Problematik zu erfassen und zu strukturieren?

ELISABETH SCHARANG: Mit der ausufernden Dimension müssen wir leben. Ich kann mich nicht erinnern, je einen Film gemacht zu haben, wo der Gegenstand meines Films ständig in Veränderung und in Bewegung ist. Wir adaptieren, updaten, lesen, recherchieren; und das wird bis zum Ende der Fertigstellung so bleiben. Ein spannender Punkt ist die digitale Vernetzung im Hinblick auf den Aktivismus gegen Femizide. Viele Menschen, die im Bereich der Gewaltprävention arbeiten, sind so überlastet, dass sie wenig Zeit haben, sich zu vernetzen, und zu recherchieren, was sich gerade in anderen Ländern tut. Unsere Aufgabe könnte man als klassisches „Best of öffentlich-rechtliches-Filmemachen“ bezeichnen. Wir wollen unsere Recherchen und das Wissen all der Expertinnen*, die wir treffen, zur Verfügung stellen. Deshalb wird es zusätzlich zu dem Film einen Podcast geben, der alle Aspekte in unserem Film nochmal vertiefen wird.

 

Demo in Madrid © Elisabeth Scharang

Nach der Defiziterhebung ist der Aktivismus der zweite wesentliche Faktor Ihres Zugangs. Wie alt ist der Aktivismus in Österreich? Wo gibt es bereits viel länger Initiativen? Wie wird der Aktivismus Teil des Films werden?

ELISABETH SCHARANG: Dass Aktivismus das Herzstück des Films ist, hat einen simplen Grund: Demonstrationen gegen Femizide finden nicht statt, weil es um den Tod, sondern um das Leben geht. Schülerinnen in Kenia gehen auf die Straße und tragen Transparente auf denen steht: Stop Killing Us. Unser Film heißt: NICHT EINE WENIGER. Ohne diesen Aktivismus gäbe es die mediale und politische Diskussion über Femizide nicht.

KRISTIN GRUBER: Der 8. März 2020 war für den Aktivismus gegen Femizide in Österreich ein entscheidendes Datum: An diesem Tag haben unterschiedliche feministische Gruppen den Entschluss gefasst, sich mit dem Thema Femizid als inhaltliche Speerspitze zusammenzutun und ihre Kräfte zu bündeln. So hat sich im Sommer 2020 Claim the Space als offenes Kollektiv gegründet und begonnen, nach jedem Femizid – also mehrmals im Monat – eine Kundgebung und Demonstration am ehemaligen Karlsplatz in Wien zu organisieren. Hätte es das nicht gegeben, wäre in Österreich nicht geschehen, was geschehen ist. Es hat viel Durchhaltevermögen und Öffentlichkeitsarbeit seitens Claim the Space gebraucht, bis der Zug langsam ins Rollen kam. Im ersten halben Jahr war, glaube ich, nicht eine einzige Person von der Presse da. Aber mit dem gesellschaftlichen Druck, den die Aktivist*innen erzeugen konnten, und der kontinuierlichen Kritik an der Art der Medienberichterstattung, haben sie zum Beispiel erwirkt, dass in der österreichischen Presse über Femizide und nicht mehr über Ehedramen geschrieben wird; außerdem bekamen all jene Personen, die beruflich an relevanten Stellen zum Thema saßen und bisher in ihren Bemühungen gebremst wurden, den nötigen Rückenwind für ihre langjährigen Forderungen an die Politik. Claim the Space konnte eine Kettenreaktion auslösen, die viel verändert hat. Eine vergleichbare Entwicklung gab es zum Beispiel in Deutschland nicht.

ELISABETH SCHARANG: Im November 2022 haben wir in der Türkei gedreht. Die türkische Organisation We Will Stop Femicide ist die größte Organisation dieser Art in Europa. Warum eine Organisation, die gegen Femizide protestiert, in der Türkei so groß geworden ist, ist so einfach wie schlüssig zu beantworten: Sobald es einen Femizid oder einen sogenannten „suspicious death“ gibt, das meint: Todesfälle, bei denen Frauen von einem Balkon oder aus dem Fenstern stürzen und die Ex-Partner, die dabei waren, es als Unfall oder Selbstmord darzustellen versuchen –  sobald also ein Femizid gemeldet wird, nehmen Mitglieder von We Will Stop Femicide Kontakt mit den hinterbliebenen Angehörigen auf. Sie stellen diesen Familien einen juristischen Beistand zur Seite und sie organisieren vor jedem Prozess, in dem es um einen Femizid geht, vor dem Gericht eine Demonstration, um Sichtbarkeit zu schaffen. Diese Maßnahmen politisieren die betroffenen Familien und es hat sich eine Art Community gebildet, die über das ganze Land verteilt ist, in den Städten genauso wie auf dem Land. Dem aktuellen Regime ist die Organisation natürlich ein Dorn im Auge. Wir haben eine (offiziell verbotene) Demo in Istanbul gegen Gewalt gegen Frauen* erlebt, bei der das Polizeiaufgebot unvorstellbar groß war. Die Polizei ist mit Wasserwerfern aufgefahren, um vorwiegend junge Frauen* daran zu hindern, laut dagegen zu protestieren, dass die Türkei aus der Istanbuler Konvention ausgestiegen ist. Aber diese Frauen* lassen sich nicht den Mund verbieten und nehmen in Kauf, dafür bei Protesten regelmäßig festgenommen zu werden.

KRISTIN GRUBER: Um die relevanten Stimmen in den jeweiligen Ländern ausfindig zu machen, arbeiten wir mit feministischen Journalistinnen* vor Ort zusammen, die auf das Thema spezialisiert und mit den Beteiligten vertraut sind. Sie überprüfen unsere Recherchen auf blinde Flecken und halten mit uns Rücksprache darüber, wo wir in unserer Einschätzung falsch liegen. Ohne diese Insider*innen könnten wir diesen Film nicht machen. Sie sind ein wesentlicher Teil des Teams. Über sie gelangen wir an die relevanten Orte, zu den richtigen Protagonist*innen und erreichen eine intersektionale und globale Perspektive.

 

In welche Länder werden die Dreharbeiten Sie führen?

ELISABETH SCHARANG: Der Film führt uns in die Türkei, nach Spanien, dem zurzeit einzigen Land in Europa, in dem es Fortschritte im Kampf gegen geschlechtsbezogene Gewalt gibt, und wir drehen natürlich in Österreich, weil die Geschichte für uns hier ihren Ursprung nahm. Wir begleiten eine junge Frau, die einen Femizidversuch ihres damaligen Ex-Freundes knapp überlebt hat. Der Mordversuch hätte verhindert werden können, wenn die Polizei die notwendigen Schritte nach einer Anzeige wegen Körperverletzung gesetzt hätte. Diese Unterlassung hat unserer Protagonistin fast das Leben gekostet und ein Auge. Sie klagt nun die Republik Österreich, weil sie nicht will, dass das anderen Frauen ebenso passiert. Im März sind wir in Südkorea, einer hochdigitalisierten Gesellschaft mit einer traditionell tiefsitzenden Frauenfeindlichkeit und einem großen Problem mit Cyberkriminalität und Cyberstalking. Das hat zu grauenhaften Fällen von Femizid geführt. Es gibt übrigens kein Land, in dem die #metoo-Bewegung in so breitem Ausmaß Auswirkungen auf die Gesellschaftsstruktur hatte wie in Südkorea. Es war der Beginn einer feministischen Bewegung. Außerdem drehen wir im Sommer in Kenia und Südafrika, und im Herbst in den USA, Großbritannien, in Mexiko und Argentinien.

KRISTIN GRUBER: Theoretisch könnte und sollte man zum Thema Femizid in jedem Land dieser Welt filmen. Für unsere Auswahl war wichtig, dass es Länder sind, wo sich in den letzten Jahren in überdurchschnittlichem Maß etwas bewegt hat, die uns zeigen, wie diese Veränderungen ausgelöst wurden und was sie am Laufen hält. Damit eine Reise legitim ist und wir am Ende ein repräsentatives Gesamtbild entwerfen können, müssen wir in einem Land mehrere Aspekte vorfinden: ein globales Kerndefizit, wirkmächtige Gegenstrategien,  und Protagonist*innen, die Teil einer kollektiven Bewegung sind.

ELISABETH SCHARANG: Es wird ein Film, in dem die Zuschauer*innen mutige Protagonist*innen kennenlernen werden, Frauen*, die oft Unglaubliches erlebt haben und die nicht aufhören, eine Veränderung zu fordern. Man mag Rankings gegenüber zurecht skeptisch sein, es hat dennoch gute Gründe, dass drei unserer Protagonistinnen im Time-Magazine unter die hundert wichtigsten Personen der letzten fünf Jahre gewählt wurden. Man wird in diesem Film Hintergründe und Fakten erfahren, aber vor allem tollen Menschen begegnen. Wir werden deren Geschichten, deren Analysen und ihren Aktivismus auf den Straßen, den Gerichten und Zeitungsredaktionen nicht in abgeschlossene Blöcke aneinanderreihen, sondern in Bezug setzen und verweben.

 

Teresa Peramato Martin, Staatsanwältin gegen Gewalt an Frauen, Madrid © Elisabeth Scharang

Wovon ist der Titel NICHT EINE WENIGER inspiriert?

KRISTIN GRUBER: Ni Una Menos wurde in Argentinien gegründet und ist die Protestbewegung, die sich global am meisten ausgebreitet hat. Wir beobachten, wie sich Aktivist*innen heute weltweit vernetzen und gegenseitig in ihren Methoden austauschen. Es geht nicht vorrangig darum, Massen zu versammeln. Damit es zu einer nachhaltigen Veränderung kommt, braucht es ein Prozedere, in dem Aktivist*innen, ohne auszubrennen, Proteste über lange Zeit durchhalten können. Eine Strategie von Ni Una Menos ist es z.B., einen Platz zu vereinnahmen, auf dem man sich jedes Mal trifft, sodass sich nach einiger Zeit das Wissen durchsetzt, dass an diesem Ort gegen Femizide demonstriert wird. Ni Una Menos Austria ist Teil des aktivistischen Kollektivs Claim the Space und hat diese Technik nach Österreich gebracht. Dazu kommt gezielte Pressearbeit. Claim the Space analysiert jeden Femizid nach Thematik, nach Berichterstattung und es wird Aufklärungsarbeit geleistet. Die Aktivist*innen leisten eigentlich Erwachsenenbildungsarbeit.

 

Mit Judith Benedikt arbeiten Sie mit einer Kamerafrau, die schon bei anderen (gesellschafts-)politisch heiklen Filmthemen Erfahrung gesammelt hat.

ELISABETH SCHARANG: Mit Judith Benedikt haben wir eine Kamerafrau, die menschen-, krisen-, ländererprobt ist und vor allem fantastisch hinter der Kamera ist. Wir haben uns in der Projektentwicklung die Zeit genommen, eine Bildsprache für diesen Film zu entwickeln. Für die Demos setzen wir auf längere Einstellungen, dadurch wird die Masse an Menschen wieder zu einer Gruppe aus vielen einzelnen Gesichtern. Man braucht Zeit, um sie zu erfassen, sich die Menschen mit ihren Emotionen und Stimmen tatsächlich anzuschauen, diese Nähe entwickelt eine große Kraft. Eine weitere Frage, die uns auch beschäftigt: Wie zeigen wir, was nicht von außen sichtbar ist, weil die meisten Orte, an denen Femizide verübt werden, private Orte sind? Wir bilden für jede Stadt, in die wir reisen, ein Raster aus Bildern von Siedlungen, Wohnstraßen, Wohnvierteln. Wir vermessen in gewisser Weise die Privatsphäre und machen das Private öffentlich, die ökonomisch wohlhabenden Viertel genauso wie die einkommensschwachen. Daraus entstehen Tableaux, die einerseits in Dialog mit den Aussagen der Protagonistinnen* treten und andererseits formal die Schauplätze umspannen, an denen wir drehen. Die Dreharbeiten sind übrigens ein permanenter Kampf gegen die Zeit; wir sind einerseits ständig in Bewegung, haben an einem Tag drei/vier intensive Begegnungen, für deren Verarbeitung man im Anschluss eine Woche braucht. Andererseits haben wir Tage, an denen wir nichts anderes tun, als in der Stille zu schauen und Häuser und Wohnsiedlungen filmen. Aber es macht Sinn. So wie bei meinen früheren Dokumentarfilmen werde ich bestimmt auch selbst ab und zu die Kamera in die Hand nehmen.

KRISTIN GRUBER: Ich habe das Gefühl, dass der krasse Tempowechsel das Thema gut widerspiegelt. Von der explosiven Energie des Protests, die schreit: „So geht es nicht weiter!“, zu den Morden, der Stille, der Verzweiflung, der Gewalt, die nicht gesehen wird, all das, was nicht laut nach außen dringt.

ELISABETH SCHARANG: Deshalb wird es auch bestimmt kein Film, der sich durchgehend an ein strenges formales Konzept halten wird. Heutzutage kann man Aktivismus ohnehin nicht erzählen, ohne auch Bildmaterial aus Social Media oder YouTube-Kanälen zu verwenden. Ich habe mich allerdings bewusst gegen zwei Kameras für die Interviews entschieden. Der Fokus auf die jeweilige Protagonistin soll klar und ungebrochen bleiben, also machen wir die Hauptinterviews mit einer Kamera und gehen im Schnitt über in die Tableaux aus Wohnhäusern und Wohnstraßen, während die Stimme weitererzählt. Nur Stimme, sobald sie einmal erfasst ist, erzeugt eine besondere Konzentration und Aufmerksamkeit. Der Chor aus Stimmen bei den Protesten und Demos und die einzelnen Stimmen der Protagonistinnen* werden einen interessanten Soundtrack erzeugen.

 

Wie sieht der Zeitplan für die vielen Stationen der Dreharbeiten aus?

ELISABETH SCHARANG: Ich denke, wir werden 2023 und bis inklusive März 2024 drehen, danach schneiden und hoffen, dass der Film 2025 sein Publikum findet. Ich habe den festen Vorsatz, dass der Film auf jeden Fall in allen Ländern gezeigt wird, wo wir gedreht haben. Mein Wunsch wäre, dass wir zu jeder Premiere eine Protagonistin aus einem anderen Land einladen und dieses Prinzip staffelmäßig fortsetzen. Dieses Prozedere würde ich im Sinne einer Vernetzung nicht als Abschluss, sondern als Anfang verstehen.

 

Interview: Karin Schiefer

Jänner 2023