Im Gespräch mit Kamerafrau Judith Benedikt
„Wir Kamerafrauen stehen alle vor demselben Problem, nämlich, dass uns die männlichen Kollegen sehr schnell überholen.“
Als Kamerafrau Sichtbarkeit zu erlangen, ist in Österreich ein schwieriges Unterfangen. Judith Benedikt ist eine der wenigen, denen es geglückt ist. Seit mehr als zwanzig Jahren prägt ihr Blick eine ganze Reihe an vielbeachteten Dokumentarfilmen. Einfach ist es selbst jetzt noch nicht für sie, „im Geschäft“ zu sein. Der neue Gender Report bestätigt trotz steigender Quoten in Regie, Buch und Produktion eine deutliche Unterrepräsentanz von Frauen in der Bildgestaltung. Ein Gedankenaustausch dazu mit Judith Benedikt.
Sie sind als Kamerafrau seit ca. zwanzig Jahren im Beruf, also mitten in Ihrer Karriere. Wie hat die Situation für Kamerafrauen zur Zeit Ihrer Ausbildung und zum Einstieg ausgesehen?
JUDITH BENEDIKT: Ich habe 1998 auf der Filmakademie bei Christian Berger zu studieren begonnen, in einem Kamera-Jahrgang, wo fünf Studierende, davon drei Frauen, aufgenommen worden sind. Auch in den Jahrgängen vor und nach mir wurden zumindest gleich viele Frauen, wenn nicht sogar in der Überzahl aufgenommen. Christian Berger hat das damals sehr unterstützt, doch leider konnten nur die allerwenigsten Kamerastudentinnen in der Branche Fuß fassen.
War für Sie auch ein Reiz da, sich in einer Domäne zu behaupten, die bis dahin den Männern vorbehalten war?
JUDITH BENEDIKT: Ich habe mit zwölf Jahren begonnen zu fotografieren, mein erster Berufswunsch war Fotografin; dann habe ich mit 16 auch zu filmen begonnen und von da an war klar, dass ich nichts anderes als Kamerafrau werden wollte – ohne zu wissen, ob es viele Frauen in dem Beruf gibt oder eben nicht. Ich bin in einer kleinen Stadt in Osttirol aufgewachsen und hatte dort bereits Dinge gemacht, die eher unüblich waren für eine Frau damals, aber ich erfuhr weder Widerstand noch Einschränkungen. Die Filmakademie war für mich in dieser Hinsicht überraschenderweise eine neue Erfahrung. Ich habe da zum ersten Mal die Unterschiede zwischen den Geschlechtern gespürt. Es war toll, die Aufnahmeprüfung geschafft zu haben, es hat sich aber bald herausgestellt, dass es für Frauen schwieriger war, an Projekte an der Filmakademie heranzukommen. Ich hatte während des Studiums das Glück, mit zwei sehr talentierten Regiestudentinnen zusammenzuarbeiten, nach dem Studium aber das Pech, dass beide bis heute keine Filme mehr realisiert haben. Es war Anfang der 2000er Jahre extrem schwierig, eine Produktionsfirma zu finden, die sich für die Projekte junger Regisseurinnen interessierte. Der klassische Einstieg, von den Studienkolleg*innen in Regie in den ersten Spielfilm mitgenommen zu werden, ist bei mir ausgefallen. Die ersten Jahre nach der Filmakademie waren sehr schwierig. Eines meiner ersten Kinodokumentarfilmprojekte war Hana, dul, sed von Brigitte Weich über das nordkoreanische Frauenfußballteam. Der Film lief in Locarno und gewann den Großen Preis für besten Dokumentarfilm auf der Diagonale 2010. Es war das erste Mal, dass meine Kameraarbeit breiter wahrgenommen wurde. Dann begann sich meine Karriere langsam zu entwickeln.
Der Einstieg in die Filmbranche ist demnach ziemlich schwierig?
JUDITH BENEDIKT: Ja, es ist extrem schwierig und für Frauen wesentlich schwieriger als für Männer. Zunächst gibt man sich ja selbst die Schuld und meint, man sei nicht gut genug. Mir ist erst im Laufe der Zeit bewusst geworden, dass das System hat. Selbstzweifel sind, denke ich, Teil der künstlerischen Arbeit, aber wenn man wenige Jobs bekommt, dann sind Unsicherheiten naturgemäß ausgeprägter. 2017 haben wir ein Kamerafrauen-Netzwerk in Deutschland, Österreich und der Schweiz gegründet – Die Cinematographinnen, wir sind mittlerweile an die 130 Kamerafrauen. Wir treffen uns regelmäßig zum gemeinsamen Austausch. Es war eine unglaubliche Erleichterung zu erfahren, dass es allen ähnlich ergeht. Wir Kamerafrauen stehen alle vor demselben Problem, nämlich, dass uns die männlichen Kollegen sehr schnell überholen. Männer können mit eindrucksvollem Tempo Fuß fassen. Bei Frauen dauert dieser Prozess ewig.
Wird man unterschätzt?
JUDITH BENEDIKT: Man wird unterschätzt. Man wird auch nicht gesehen. Man ist vielleicht auch weniger gut vernetzt. Dadurch dass die entscheidungsstarken Positionen im Film sehr oft von Männern besetzt sind, sind sie auch besser vernetzt. Kameramänner kommen vom Studium weg zum Zug, während viele Kamerafrauen mit langjähriger Erfahrung auf einen Anruf warten. Ich bin immer wieder auch aktiv geworden und habe mich bei Produktionsfirmen beworben. Es hat sich dadurch kein einziger Job ergeben. Man ist darauf angewiesen, angerufen zu werden, weil man ja nicht selbst aktiv ein Projekt einreichen kann.
Sie haben für den Dokumentarfilm China Reverse auch Regie geführt, bei Weiyena – ein Heimatfilm waren Sie Ko-Regisseurin mit Weina Zhao. War das auch eine Strategie, sich selbst Arbeit zu schaffen?
JUDITH BENEDIKT: Grundsätzlich hatte ich nie die Intention, selbst Regie zu führen. Ich hatte mir bei einem Unfall das Schlüsselbein gebrochen und konnte fast ein Jahr lang nicht drehen. In diesem Leerlauf kam mir die Idee, selbst ein Projekt einzureichen. Das Thema trug ich schon längere Zeit in mir herum, der Zeitpunkt schien gekommen. Es erscheint mir aber eher die Notlösung, sich selbst durch eigene Projekte einen Job zu verschaffen.
Nach zwanzig Jahren kann man sagen, dass Sie unter den Kolleginnen in Österreich zu den gut beschäftigten Kamerafrauen zählen.
JUDITH BENEDIKT: In den letzten Jahren war ich ganz gut gebucht, für dieses Jahr kann ich das noch nicht sagen. Finanzielle Unsicherheit ist etwas, das phasenweise immer wiederkehrt. Man muss auch bedenken, dass die Verdienstmöglichkeit im Dokumentarfilm wesentlich geringer ist, was ich für ungerecht halte. Denn viele Projekte ziehen sich über zwei, drei Jahre. Ich muss eigentlich fünf Projekte gleichzeitig haben, damit es sich finanziell ausgeht. Das heißt wiederum, dass ich für das eine, dann wieder für das andere Projekt Drehtage habe, was einen großen und oft komplizierten Koordinationsaufwand bedeutet. Im Dokumentarfilm wird meist sehr viel gedreht, Reisen machen die Drehs oft anstrengend und man hat im Gegensatz zum Spielfilm viel mehr Funktionen selbst zu erfüllen. Man muss auch das Licht machen, ist körperlich viel stärker im Einsatz, die Drehzeiten sind viel ungeregelter. Arbeitszeiten genau nach Gesetz einzuhalten, ist im Dokumentarfilm, vor allem bei Dreharbeiten im Ausland, unrealistisch. Und man ist gestalterisch sehr gefordert und muss in der Situation oft regieartige Entscheidungen treffen, daher halte ich es nicht für gerecht, dass man als Kameraperson im Dokumentarfilm deutlich weniger verdient.
Haben Sie persönlich auch am Set Erfahrungen gemacht, dass man Ihre Kompetenz in Frage gestellt hat, weil Sie eine Frau sind?
JUDITH BENEDIKT: Das Kamera- und Lichtdepartment ist sehr hierarchisch strukturiert. Um das Studium zu finanzieren, habe ich auch als Beleuchterin gearbeitet. Nicht gute Erfahrungen habe ich in meinen Zwanzigern als meist einzige Frau in der Lichtcrew gemacht. Da ist es am offensichtlichsten, dass einer Frau nichts zugetraut wird. Bei meinem letzten Job als Beleuchterin hatte ich dann schon ziemlich viel Erfahrung, der Oberbeleuchter hat mich aber behandelt, als hätte ich keine Ahnung und hat mich auch nichts machen lassen. Ich hatte dann keine Lust mehr, mich jedes Mal aufs Neue zu beweisen, obwohl mir die Arbeit als Beleuchterin immer sehr Spaß gemacht hat, weil es eine schöne und kreative Arbeit ist. Ein Argument, das wir Kamerafrauen auch immer wieder zu hören bekommen, ist, dass Kamera eine körperlich anstrengende Arbeit ist, die einer Frau nicht zumutbar ist. Wenn eine Frau ihr dreijähriges Kind samt Einkaufstaschen schleppt, fragt keiner, ob ihr das körperlich zu anstrengend ist. Es herrschen Vorurteile, die gerne als Vorwand dienen.
Hat der Austausch im Netzwerk Die Cinematographinnen auch gezeigt, dass Kolleginnen in verschiedenen Ländern ähnliche Erfahrungen machen?
JUDITH BENEDIKT: Die Erfahrungsberichte sind einander sehr ähnlich. Es hat mir sehr gut getan, mich auszutauschen und mich verstanden zu fühlen. Es ist immer gut, wenn man sich vernetzt, weil man etwas verändern kann. Eine der ersten erfolgreichen Aktionen der Cinematographinnen bestand darin, dass der Titel der Fachzeitschrift Film- und TV-Kameramann umbenannt wurde in Film- und TV-Kamera. Solche Dinge kann man nur durch einen Zusammenschluss durchsetzen. In Deutschland ist die Situation sehr ähnlich. Es gab vor kurzem eine größere Empörung, weil beim Deutschen Kamerapreis, wo es 24 Positionen gibt, für die man nominiert werden kann, keine einzige Frau unter den Nominierten war. Wir konnten es zahlenmäßig nicht ganz nachvollziehen, aber von den 460 eingereichten Filmen, sind geschätzt 50 bis 70, bei denen eine Frauen die Kamera gemacht hat. Da ist nun mal die Chance geringer, nominiert zu werden. Da ist ein Fehler im System.
Nun sind durch das Gender Incentive Anreize geschaffen worden, dass das Talent der Frauen im österreichischen Filmschaffen stärker sichtbar wird, Frauen bei Jobs öfter zum Zug kommen. Hat sich die Entwicklung der letzten Jahre positiv auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
JUDITH BENEDIKT: Ich glaube, das Gender Incentive war eher ein Anstoß in Regie und Produktion. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich dadurch mehr Aufträge bekommen habe.
Man stellt auch fest, dass viele Regisseurinnen mit Kameramännern zusammenarbeiten. Haben Sie dafür eine Erklärung?
JUDITH BENEDIKT: Ich habe meine Hypothesen (lacht). Ich glaube, dass es bei vielen gar nicht im Bewusstsein ist. Man kennt nur wenige Kamerafrauen. Ich glaube, dass oft unbewusste Motive wirksam werden und das Gefühl vorherrscht, dass ein Mann in einem technischen Beruf mehr Sicherheit vermittelt. Ich habe schon vor längerem darauf hingewiesen, dass Kamera auch in die Quote einbezogen werden sollte. Da entgegnete man mir, dass es erwiesen sei, dass Frauen eher mit Frauen zusammenarbeiten. Das stimmt aber nicht für Kamera und auch nur begrenzt für Schnitt. In diesem Zusammenhang ist dann auch die Diskussion über Male Gaze und Female Gaze aufgekommen. Ich halte diese Unterscheidung grundsätzlich für problematisch. Male Gaze ist filmhistorisch betrachtet ein wichtiger Begriff und dass es ihn gibt, finde ich gut. Ich glaube aber nicht, dass der Female Gaze die Gegenposition bzw. die Antwort darauf ist.
Warum sehen Sie das so?
JUDITH BENEDIKT: Binäres Denken halte ich grundsätzlich für problematisch. Ich halte es auch für problematisch, wenn ich einen Anruf bekomme, wo man mir sagt: Wir brauchen für dieses Projekt eine besonders sensible Person, deswegen hätten wir gerne eine Kamerafrau. Da sind wir bei geschlechterspezifischen Zuschreibungen, die vorwiegend bei Frauen gemacht werden. Umgekehrt gibt es so viele Projekte, wo nicht hinterfragt wird, warum das jetzt ein Mann macht. Es gibt genügend Filme, wo es nur um Frauen geht und Männer die Kamera machen. Ich denke, es muss sich ein neuer Blick erfinden, den ich nicht unbedingt als Female Gaze definieren würde. Es braucht einen neuen Blick, der davon ausgeht, dass es 50:50 Chancenverteilung gibt. Dann kann man aus beidem schöpfen und einen neuen Blick kreieren. Das wäre meine Zukunftsvision.
Wie könnte dieser neue Blick aussehen?
JUDITH BENEDIKT: Wenn ich das wüsste … Ich frage umgekehrt: Was sollte der Female Gaze sein? Wir sind alle so geprägt von mehr als hundert Jahren Filmgeschichte, wo uns in erster Linie Männer die Welt gezeigt haben. Man muss sich erst mal als Frau auch davon lösen und versuchen, eine eigene, neue Sprache zu finden. Es gibt ja interessante Arbeiten wie in Brainwashed: Sex-Camera-Power von Nina Menkes, die das sehr genau analysiert. Natürlich besteht ein neuer, zukünftiger Blick darin, dass man Frauen anders anschaut, als es bisher geschehen ist. Und Männer auch. Aber das muss in einem Prozess entstehen. Es gibt ja auch eine Bandbreite innerhalb der Geschlechter.
Wo sehen Sie Möglichkeiten, die angesichts dieser Unterrepräsentanz von Kamerafrauen Abhilfe schaffen?
JUDITH BENEDIKT: Ich habe mir vor kurzem die Punktevergabe im Gender-Budgeting angesehen. Da ist sehr viel Priorität auf Regie, Drehbuch, Produktion gelegt. Wenn man jetzt Maßnahmen treffen will, dann muss man die Punkteregelung hinterfragen und ich denke, man müsste Kamera ins Kernteam aufnehmen und wesentlich mehr Punkte dafür vergeben. Dann wäre es vielleicht auch für Regisseure ein Anreiz, mit Kamerafrauen zusammenzuarbeiten. Ich denke auch, dass für Schnitt ähnliche Maßnahmen nötig sind. Es wird immer noch angenommen, dass Schnitt eine Frauendomäne ist; seitdem der Computer im Spiel ist und man nicht mehr so kleine Nummern auf den Film schreiben muss, ist es ein Beruf geworden, der für Männer interessant ist. Ich denke, wenn Kamera im Punktesystem aufgewertet wird und Teil des Kernteams ist, würde es die Sache auch fairer für Regisseure machen. Wenn Männer Drehbuch schreiben und Regie führen – eine in Österreich häufige Konstellation –, dann sind zwei Positionen männlich belegt. Wenn man nun sagt, man nimmt Kamera und vielleicht auch den Schnitt dazu, sind vielleicht mehr Anreize geschaffen, in den technischen Berufen mehr Frauen zu haben. Ich will damit nicht sagen, dass ich gegen die Quote bin, wie sie jetzt durchgesetzt ist. Ich habe das immer total unterstützt, ich finde nur, dass die Kamera als wesentliches Element im filmischen Prozess ausgelassen wird.
Wo liegen Ihre persönlichen Wünsche?
JUDITH BENEDIKT Ich würde gerne mehr Spielfilm machen, dennoch auch im Dokumentarfilm weiterarbeiten. Ich wünsche mir mehr Chancengleichheit, dann kann man auch die Qualität der Arbeit diskutieren. Als Frau hört man so oft den Einwand: Du hast zu wenig Erfahrung. Wenn man den Frauen keine Chancen gibt, werden sie weniger Erfahrungen machen können. Ich muss mir nach zwanzig Jahren als Kamerafrau anhören, dass ich für Spielfilm zu wenig Erfahrung habe. Die berühmtesten Kameramänner in der Filmgeschichte haben alle mit Doku begonnen. Ich würde Doku-Erfahrung eher als Bonus betrachten. Dokumentarfilm zu machen, verlangt auch eine große gestalterische Kompetenz. Im Dokumentarfilm ist nichts wiederholbar, wenn ich einen Moment nicht richtig erwische, ist er für immer verpasst. Das ist ein großer Druck beim Dokumentarfilmdreh, wo man immer bereit sein und alles technisch passen muss. Es wäre mein großer Wunsch, spannende Spielfilmprojekte machen zu können. Das sind persönliche Wünsche, ich wünsche mir aber natürlich auch, dass viel mehr Kamerafrauen nachkommen, weil es ausgewogene Chancen für alle gibt. Ich denke ein leichter Wandel ist jetzt schon spürbar.
In welcher Hinsicht sollte sich ein stärkeres Sensorium entwickeln?
JUDITH BENEDIKT: Ich glaube, dass die Qualität der Arbeit von Frauen viel strenger beurteilt wird. Im Kamerabereich, aber auch allgemein. Man hat einen unglaublich hohen Druck, dass die Arbeit, die man leistet, sehr gut ist. Wenn man grundsätzlich gute Arbeit macht und mal ein Projekt hat, das nicht so optimal ist, dann bekommen Frauen viel schneller die Konsequenzen zu spüren und der Druck ist viel höher. Und es ist, wie schon gesagt, sehr frustrierend zu sehen, wie junge Kameramänner durchstarten können. Es gibt Männer, die haben noch nicht einmal gewusst, dass sie Kameramann werden wollen, da bin ich schon am Set gestanden und habe sie später ausgebildet. Und dann muss man zusehen, wie sie einen überholen in einer Geschwindigkeit, die atemberaubend ist. Ich habe mir lange nicht erlaubt, diesbezüglich wütend zu sein. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Jetzt denke ich, man darf nicht aufhören, das zu thematisieren, bis sich etwas ändert.
Interview: Karin Schiefer
März 2024