Mo Harawe im Gespräch
1) Nachdem Sie im Alter von 17 Jahren ihr Herkunftsland Somalia Richtung Österreich verlassen haben, konnten Sie sich in der österreichischen Filmszene durch Ihre vielbeachteten Kurzfilme in den vergangenen Jahren einen Namen machen. Worin wurzelt Ihre Leidenschaft für den Film und wie kamen Sie zum Filmemachen?
Ich würde nicht unbedingt von einer Leidenschaft für Film sprechen. In meiner Kindheit und Jugend habe ich zwar Filme geschaut, war aber nie von bestimmten Regisseurinnen und Regisseuren oder Stilrichtungen fasziniert. Als junger Erwachsener in Österreich habe ich nach einer Möglichkeit gesucht, mich auszudrücken und das Medium Film hat sich für mich als wirklich universelle Form des Ausdrucks hervorgetan. Erste Experimente mit selbst gedrehten Videos sind dann 2013 oder 2014 entstanden, nachdem ich schon einige Jahre in Österreich gelebt habe.
2) Ihre beiden Kurzfilme Life on the Horn (2020) und Will My Parents Come to See Mee (2022) haben Ihnen bei internationalen Festivals viel Anerkennung und u.a. Auszeichnungen wie den Österreichischen Filmpreis eingebracht. Welche Türen hat das für Ihr Filmschaffen eröffnet?
Die Einladungen zu internationalen Filmfestivals haben vor allem neue Perspektiven für mich eröffnet. Nachdem ich an keiner Filmschule in Österreich studiert habe und nicht in das „System“ hineingewachsen bin, war es besonders hilfreich für mich, auf den internationalen Filmbühnen meinen Horizont zu erweitern. Dort habe ich gelernt, dass man als junger österreichischer Filmemacher auch global denken kann und soll – die weltweite Filmszene ist unglaublich groß und vielfältig! Die Teilnahmen an internationalen Festivals waren gewissermaßen meine Schule in der Welt des Films, da ich dabei andere Filmschaffende, Filme und Herangehensweisen kennenlernen durfte. Dadurch habe ich auch gelernt, dass Filmemachen nicht mit dem Drehen und Schneiden eines Films endet. In dieser Hinsicht haben mir LIFE ON THE HORN und WILL MY PARENTS COME TO SEE ME viele Möglichkeiten für die Zukunft eröffnet, ohne dass dies mein Plan gewesen wäre. Ohne diese Erfolge wäre es wahrscheinlich auch nicht möglich gewesen, meinen ersten Langspielfilm zu realisieren.
3) Ihr erster Langspielfilm The Village Next to Paradise beleuchtet ebenso wie Ihre beiden Kurzfilme das Leben von Menschen in Somalia. Steht dahinter der Wunsch nach einer filmischen Auseinandersetzung mit dem Land, in dem Sie geboren und aufgewachsen sind?
Die Auseinandersetzung mit Somalia war zwar eine Begleiterscheinung, aber nicht mein grundlegendes Ziel hinter den Filmen. Ich habe bereits vor Life on the Horn andere Kurzfilme direkt in Österreich gedreht, war jedoch mit den Produktionsbedingungen sehr unglücklich: permanenter Stress und ein straffer Zeitplan, der keinerlei Freiraum zur Entfaltung im Moment zuließ – damit habe ich mich sehr unwohl gefühlt. Da ich in keiner Filmschule gewesen bin, wo ich ein Netzwerk aufbauen hätte können, kam hinzu, dass ich die Beteiligten immer wieder aufs Neue für das Projekt überzeugen musste. All das hat mich zur Erkenntnis gebracht, dass ich auf diese Art und Weise keine Filme machen will. Für mein nächstes Projekt wollte ich sozusagen die gegenteiligen Produktionsbedingungen: kein Set mit großem Team und keinen fixen Drehplan, sondern ein komplett freies Arbeiten und vor allem Zeit, um zu experimentieren. Nachdem ich zur selben Zeit das Glück hatte, nach Somalia reisen zu können, ergab es sich einfach gut, meine nächste Filmidee in Somalia umzusetzen – und zwar völlig frei. Ich war für Life on the Horn einen Monat lang alleine mit einer kleinen Kamera im Land unterwegs und habe ohne jeden Plan einfach von Tag zu Tag mit dem gedreht, was die Gegebenheiten angeboten haben. Diese Art und Weise Filme zu machen, war für mich unglaublich schön und befreiend. Deswegen habe ich diesen Zugang auch für Will My Parents Come to See Mee gewählt.
4) The Village Next to Paradise zeigt in unaufgeregten Bildern einen Ausschnitt aus dem Leben einer somalischen Familie, bei der sehr viel auf dem Spiel steht. Aus der Zuschauerperspektive gerät dabei weniger eine bestimmte Handlung nach einem bestimmten Erzählmuster in den Mittelpunkt, sondern vielmehr ein grundlegender Einblick in die Lebenswelt der Figuren. Warum war es ihnen ein Anliegen, speziell diese Geschichte in dieser Form zu erzählen?
Die erste Fassung dieser Geschichte habe ich bereits 2018 geschrieben, allerdings nur für mich und ohne einen Gedanken daran, dass draus womöglich einmal ein Langspielfilm werden könnte. Hintergrund war, dass ich damals schon fast zehn Jahr in Österreich gelebt habe und immer wenn ich jemandem erzählt habe, dass ich aus Somalia komme, traf ich auf ein recht einseitiges Bild meines Herkunftslandes. So wuchs der Wunsch heran, im Rahmen einer Geschichte eine andere Seite von Somalia und der Menschen zu beleuchten – abseits des eindimensionalen Bildes eines bürgerkriegsgebeutelten Landes. Gleichzeit war das Schreiben ein Prozess, um auch mich selbst und meine Herkunft besser kennenzulernen.
Erst Jahre später hat sich die Möglichkeit aufgetan, diese Story über die verschiedenen Mitglieder einer somalischen Familie und ihre jeweiligen Herausforderungen im Leben zu einem Film zu machen. Mir war es dabei wichtig, den Zugang nicht auf einer intellektuellen, sondern auf einer intuitiven Ebene zu wählen. Wir haben komplett ohne Storyboard und ohne wirkliche Vorausplanung gedreht. Der Großteil der Szenen ist erst direkt an der Location und im Moment entstanden, und zwar immer mit dem klaren Fokus auf die Figuren und ihren Erlebnissen. Alles was im Film zu sehen ist, dient einzig dazu, den Figuren, ihren Gefühlen und Beweggründen folgen zu können, zu begreifen welche Faktoren ihr Leben bestimmen und mit ihnen zu „connecten“. Gleichzeitig war es mir wichtig, das Leben der Figuren nicht als Drama auszubeuten, sondern eine gewisse universelle Wahrheit darin zu suchen, um im besten Fall „mehr als einen Film“ auf Zuschauerseite entstehen zu lassen.
5) Woraus schöpfen Sie Ihre künstlerische Inspiration? Gibt es filmische Vorbilder, die sie in Ihrer Filmsprache geprägt haben?
Vorbilder unter berühmten Regisseurinnen und Regisseuren gibt es nicht wirklich, wahrscheinlich auch, weil es nie mein Jugendtraum gewesen ist, einmal Filmemacher zu werden. Ich habe zwar vor meinen ersten filmischen Versuchen selbst gerne Filme geschaut, aber nie im Hinblick auf eine bestimmte Handschrift oder einen bestimmten Stil. Viele als „Klassiker“ geltende Filme habe ich nie gesehen, einfach weil ich in der Kindheit und Jugend nicht die Möglichkeit dazu hatte. Die Chance, überhaupt Vorbilder zu haben, war dadurch von Natur aus geringer.
Als Inspiration für mein Schaffen würde ich aber die Erfahrungen der vergangenen Jahre bei Festivals sehen. Dabei durfte ich so viele faszinierende Kolleginnen und Kollegen von allen Kontinenten kennenlernen und die unterschiedlichen Herausforderungen, mit denen sie beim Filmemachen konfrontiert sind. Das gab mir insgesamt viel Mut und Inspiration für meinen Weg, weil ich gesehen habe, dass es in vielen Ländern Leute wie mich gibt, die abseits vorgezeichneter Wege ihr Ding machen und damit Erfolg haben. Diese Erfahrungen waren extrem aufschlussreich, weil ich begriffen habe, was Film alles sein kann: Es gibt so unterschiedliche Geschmäcker, Stilrichtungen und Erzählformen, aber das Ergebnis ist letztlich alles Film!
6) The Village Next to Paradise wurde in Somalia mit Laiendarstellerinnen und Laiendarstellern gedreht. Was waren dabei die größten Herausforderungen, aber auch Chancen, die ihren Film letztlich maßgeblich geformt haben?
Alle bis auf eine Person aus dem Cast waren für The Village Next to Paradise zum ersten Mal überhaupt vor der Kamera. Wir haben alle Mitwirkenden ohne Vorausplanung direkt in Somalia gesucht und gefunden und ich bin unglaublich glücklich darüber, mit welchem Engagement sie sich auf das Projekt eingelassen haben. Der Vorteil in der Arbeit mit Laien ist es, dass sie nicht viel über die Art und Weise ihres Schauspiels nachdenken, sondern einfach da sind und tun. Sehr viel entsteht dadurch ganz spontan und intuitiv im Moment und ist im Gegensatz zu einstudierten Szenen natürlich unwiederbringlich, aber genau dieser Zugang hat dem Film letztlich seine Natürlichkeit gegeben. Was es darstellerisch bei dieser Arbeitsweise braucht, ist natürlich Mut, sich ganz darauf einzulassen. Hinter der Kamera ist das Bewusstsein wichtig, dass bestimmte Aufnahmen nur aus dem Moment entstehen und sich nicht reproduzieren lassen.
All das funktioniert aber nur, wenn man den Menschen genug Zeit und Raum gibt und ein Setting schafft, in dem sie sich wohl fühlen. Nur mit genug Freiraum und Vertrauen ist der Film das geworden, was er ist.
7) Wie haben Sie die Weltpremiere Ihres Films vor wenigen Tagen im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele von Cannes, des bekanntesten Filmfestivals der Welt, in der Schiene „Un Certain Regard” erlebt?
Die Premiere gemeinsam mit dem ganzen Team in Cannes erleben zu dürfen, war eine wunderschöne und auch emotionale Erfahrung. Für einige Mitwirkende war es das erste Mal, dass sie einen Film in einem Kinosaal sehen konnten. Ich habe natürlich versucht, diese besonderen Momente aufzusaugen und zu genießen! Gleichzeitig waren die Tage rund um die Premiere aber in gewisser Weise auch sehr anstrengend durch die vielfältigen Verpflichtungen, wie Fotoshootings, Interviews mit der internationalen Presse und viele Treffen mit Leuten aus der Filmbranche. Insgesamt eine unbeschreibliche Erfahrung und eine unglaublich große Bühne für unseren Film. Die Reaktionen bei der Vorführung haben mich sehr ermutigt und bewegt – besonders, dass beim Publikum eine so deutlich spürbare Verbindung zu den Figuren entstanden ist!
8) Gibt es schon Pläne für neue Filmprojekte?
Nein, die gibt es nicht. Die vergangenen Monate waren ein echter Marathon, im positiven Sinn. Jetzt heißt es einmal neue Kraft zu tanken und den Kopf wieder frei zu bekommen. Dann wird sich bestimmt wieder ein spannendes neues Projekt ergeben.