
„Je unruhiger die Welt, desto größer wird die Sehnsucht nach Märchen.“
Die Teenager Chili und Jolo leben auf sich allein gestellt. Ihre Millennial-Eltern haben in Sachen Engagement für Familie und Umwelt nie wirklich brilliert. Die einzige Verbindung, die jetzt noch zwischen ihnen besteht, sind handgeschriebene Tagebücher, die die Jugendlichen mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe an Passant*innen reinszenieren. Jasmin Baumgartner nimmt sich für ihr Spielfilmdebüt Sentimental Fail Club eine unkonventionelle Abrechnung zwischen den Generationen vor, mit großen romantischen Gesten und voller Popkultur der Nullerjahre.
Ihr letzter Kurzfilm Bye Bye Bowser lief beim Sundance Festival, davor wurde Unmensch bei der Diagonale ausgezeichnet. Nun bereiten Sie Ihren ersten Langfilm Sentimental Fail Club vor. Wenn ich versuche, eine thematische Verbindung in diesen Arbeiten zu lesen, dann sehe ich sie in Menschen mit wenig Bewusstsein für andere, mit fehlender Verantwortung für Schwächere. Ist dies ein Thema, das Sie beschäftigt?
Jasmin Baumgartner: Wenn überhaupt, geht es mir weniger um fehlende Verantwortung als um ein Ungleichgewicht – darum, wie ungerecht die Welt manchmal verteilt ist. In Bye Bye Bowser ging es mir um die Aneignung von Arbeiterästhetik in anderen Kunstformen und um den Gegensatz zwischen Echtheit und Inszenierung; in Unmensch um den Wunsch, etwas Wahrhaftiges zu fühlen und es zu zeigen. Beide Filme verbindet ein gewisser Zynismus, aber auch eine Zuneigung zu Figuren, die moralisch schwanken. Ich finde es spannender, wenn Menschen Fehler machen und man trotzdem verstehen kann, warum.
Als Kind sind alle Menschen gleich, und erst wenn man beginnt, Unterschiede wahrzunehmen, entsteht ein Bewusstsein für Gerechtigkeit. In Sentimental Fail Club erzählen wir aus der Perspektive von Teenagern, die gemeinsam mit Fremden die Tagebücher ihrer Eltern aufarbeiten. Mich interessiert, was Menschen dazu bringt, Verantwortung zu übernehmen – oder eben nicht. Ich glaube, alle meine Stoffe versuchen, die eine oder andere moralische Falle zu stellen.
Im Mittelpunkt stehen zwei Teenager, Chili und Jolo. Wie wurde die völlige Abwesenheit ihrer Eltern zum zentralen Thema von Sentimental Fail Club?
Jasmin Baumgartner: Ich bin ohne Vater aufgewachsen. Meine Mutter hat das allein durchgezogen. Bewusst getroffen habe ich meinen Vater zum ersten Mal, als ich 18 war. In einem Film wäre das vielleicht dramatisch, im echten Leben war es überraschend unspektakulär. Ich finde, dass das Thema Eltern in Lebensgeschichten manchmal überbewertet ist – als wären Freude und Leid eine Art DNA, die generational weitergegeben wird. In Wahrheit besteht bei bedingungsloser familiärer Liebe kein direkter Bezug zu dem, was die Eltern abseits davon gemacht haben. Ich habe vor eineinhalb Jahren mein Kind bekommen, und Verantwortung hat plötzlich eine ganz andere Dimension bekommen – nicht moralisch, sondern existenziell. In Sentimental Fail Club wollten wir eine Art Spiegel schaffen, in dem man das Leben der Eltern wie in einem Film betrachten kann. Die Austauschbarkeit von Liebenden in Liebesgeschichten. Ein endloser Kreis an Auseinandersetzung (lacht).
Wie ist der Titel Sentimental Fail Club mit seinem direkten Verweis aufs Scheitern entstanden?
Jasmin Baumgartner: Da muss ich jetzt weiter ausholen. Die erste Fassung von Sentimental Fail Club war ein Versuch von Lorenz Uhl und mir, aus der Perspektive von Chili und Jolo fünf Menschen zu porträtieren, die uns das Herz gebrochen haben – und dann mit einem Publikums-Voting das größte „Sentimental Fail“ gewinnen zu lassen. Gewonnen hat die Person, die sich am offensichtlichsten selbst im Weg gestanden ist. Das Scheitern oder die Liebe zum Scheitern waren von Anfang an zentral. In einer späteren Fassung wurden die Eltern zum Motor für das Handeln der Kinder. Erst viele Fassungen danach rückte das Leben der Eltern selbst in den Vordergrund – das war der größte Durchbruch in der vierjährigen Drehbucharbeit. Konstant blieb dabei die Perspektive der Kinder auf das Leben der Erwachsenen. Uns war wichtig, mit dem Scheitern versöhnlich umzugehen.
Sie verweisen in Ihrem Regiestatement auch auf eine Rückkehr des fantastischen Kinos im Kontrast zu einem realistischen filmischen Erzählen. Warum sind Ihnen fantastische Elemente wichtig?
Jasmin Baumgartner: Als ich an der Filmakademie zu studieren begann, war es der Höhepunkt des Kinos von Michael Haneke und Ulrich Seidl – ein naturalistisches Kino, oft naturalistischer als das Leben selbst. Das war die Filmwelt, in die ich hineingewachsen bin. Ich kam ohne filmische Vorerfahrung an die Akademie und habe lange darauf hingearbeitet, dass Professor Haneke einen meiner Filme gut findet. Das war für mich damals der einzig gültige Ritterschlag.
Meine Lieblingsfilme haben alle einen realistischen Anspruch, der dann an einem Punkt gebrochen wird – wie der Frösche-Regen in Magnolia. Ich glaube nicht, dass ich je einen Fantasyfilm machen möchte, aber ich mag Kunsteingriffe in realistische Erzählungen. In SENTIMENTAL FAIL CLUB ist dieser Eingriff die Musik. Kino steht ja immer in Relation zum Weltgeschehen – und je unruhiger die Welt, desto größer wird die Sehnsucht nach Märchen.
Hat Sie die Arbeit an Musikvideos, die Sie u.a. für Wanda gemacht haben, in der Bildsprache befreit?
Jasmin Baumgartner: Auf jeden Fall. Ich habe mit 19 oder 20 Jahren ein Musikvideo I bin der Ösi Bua alleine mit Kamera gedreht, das eines der ersten österreichischen Videos war, das viral ging, weil es einen „TikTok-Tanz“ hatte. Man braucht so wenig, um ein Musikvideo zu drehen. Die Videos für Wanda wiederum waren aufwändig wie Filme. Columbo war mein erstes. Wir hatten damals für drei Minuten Musikvideo ein Budget, dass wir nicht mal für Kurzfilme hatten. Es war schon viel Druck, weil die Band gerade so einen Höhepunkt hatte. Ich konnte aber literally alles machen, was ich wollte, weil wir die Möglichkeiten dazu hatten. Das Columbo-Video hat an die 20 Mio. Clicks erreicht. Musikvideos sind generell das experimentierfreudigste Genre, was Bildsprache betrifft. Man gewinnt dadurch eine technische Sicherheit, weil man auf allen Ebenen so viel ausprobieren kann. Musikvideos waren sicher ein Grund, warum Musik zu so einem Key-Faktor unserer Filme wurde. Bei einem Musikvideo ist der Song wie das Drehbuch zum Video. Wir arbeiten parallel zum Drehbuch am Soundtrack, damit man sich alles besser vorstellen kann.
Wie haben Lorenz Uhl und Sie zu dieser komplexen Form des Drehbuchs gefunden?
Jasmin Baumgartner: Wir wollten uns bei der Wahl des Stoffes wirklich nur daran orientieren, welchen Film wir gerne sehen würden, den es noch nicht gibt, aber auch daran, was wir tatsächlich erzählen können. Viele Filme wirkten für uns zu dem Zeitpunkt kalkuliert, da wollten wir dagegenwirken. Ausgangspunkt war die Idee zweier Teenager, die gemeinsam mit fremden Tourist*innen das Tagebuch ihrer Eltern, Corni und Jenny, nachstellen. Daraus ergeben sich vier Episoden: In der ersten wird die Liebe in 24 Stunden durchgespielt – eine große, fast überhöhte Geste. Die zweite zeigt die erste Krise des Paares. In der dritten reist der Vater nach Istanbul, wo er sich in einer Haartransplantationsklinik in einen Mann verliebt und es sich nicht eingestehen kann – ein Kommentar auf die emotionale Unbeholfenheit unserer Generation. Die vierte Episode schließlich ist wie ein Freud’scher Albtraum: Der Vater, der sich nie wirklich festlegen konnte, wird mit dem Tod und gleichermaßen dem Ende dieser Liebe konfrontiert. Diese episodische Form war für uns der beste Weg, die verschiedenen emotionalen Ebenen, Brüche und Übertreibungen dieser Liebesgeschichte zu erzählen – und sie trotzdem in einer großen, romantischen Geste enden zu lassen. Das große Thema Austauschbarkeit hat uns in seiner Ungreifbarkeit dazu gebracht, diese riskante poetische Erzählform zu wählen. Unterm Strich ist unser Film eine Romanze.
Das Tagebuch ist ein Element aus der analogen Welt, ein Inbegriff an Intimität. In Sentimental Fail Club werden diese Inhalte von wildfremden Menschen aufgegriffen und wiedergegeben. Wie sehr hat Sie das Thema der totalen Durchdringung des Privaten in unserer Zeit beschäftigt?
Jasmin Baumgartner: Wir haben ein Drehbuch geschrieben, das man nicht leicht auf ein Thema herunterbrechen kann. Es geht um Privatsphäre, aber auch um Vergänglichkeit. Lorenz und ich denken sehr viel über das Sterben nach. Wir sind sehr sentimental im Blick aufs Leben und haben oft das Ende im Kopf und stellen uns die Frage, was von einem einzelnen Leben überhaupt übrigbleibt. Ich halte es für spannend, das eigene Leben aus einer Außenperspektive zu betrachten, als würde man auf sich selbst zurückschauen.
Ich glaube, wir haben alle ein Privatsphäre-Problem, weil niemand wirklich weiß, wie man online altert. Ich habe vor kurzem bemerkt, dass es kein einziges Video von mir gibt, bis ich ein Teenager war. Das klingt fast schon skurril. Ich hoffe, in fünf Jahren wird es einen Gegentrend geben, damit alles wieder mystischer wird, und man Informationen wieder mehr aus Begegnungen und Gesprächen bezieht. Das war immer schon Thema für mich. Mein erster Drehbuchstoff, an dem ich gearbeitet habe, hieß Nackte Schwitzende Körper und es ging konkret um Wahrheit in Relation zu Medien und wieder um eine gewisse Echtheit, die nur durch Berührung entsteht.
Mannswörth liegt am Ende der Welt und in der Nähe zum Flughafen, also zum Tor der Welt. Dieser Ort, wo die Teenager leben, hat eine Verlorenheit und Weltoffenheit zugleich. Leicht angedeutet schwingt auch die Ökologie-Thematik mit. Wie fiel die Wahl auf diesen Ort?
Jasmin Baumgartner: Mannswörth war für uns ein Ort, den niemand kennt. Die Episoden mit den Eltern spielen immer woanders, weil es ihnen stets darum ging, aus Österreich rauszukommen und woanders zu sein. Die Kinder sitzen nun in Österreich und über ihren Köpfen fliegen Menschen in die Welt. Unser Film ist keine Dystopie. Je natürlicher und selbstverständlicher man etwas einfließen lässt, desto besser ist es. Es geht gerade vieles den Bach runter, das müssen wir dem Film nicht andichten, sondern nur Wege finden, es mitzuerzählen, ohne dass es unser Budget sprengt. Zwischen den Episoden geht es zurück nach Mannswörth, einen Ort in der Nähe des Wiener Flughafens, wo die Flugzeuge aus ökologischen Gründen nicht mehr so einfach abheben können. Es ist ein Verweis auf die Millennial-Eltern, die zu einer Zeit jung waren, wo man mit Air Berlin im „Package Deal“ um 160 € quer durch die Welt fliegen konnte. Uns war wichtig zu zeigen, dass die Welt heute eine andere ist. Im Kontrast dazu zeigen wir ein Verona zu einer Zeit, wo es noch keine Smartphones gab. Ich gehöre zur glücklichen Generation, die Welt davor noch zu kennen. Meiner Theorie zufolge ist die Generation von Cornis Eltern die, die das Haus abbezahlt und häuslich hergerichtet hat, die Generation von Corni und Jenny hat es heruntergewirtschaftet und die Generation von Chili und Jolo muss es neu aufbauen.
Hat die Struktur dieses Episodenfilms auch schon im Schreibprozess ein Mitdenken für die Montage gefordert?
Jasmin Baumgartner: Ich arbeite sehr intuitiv und lasse am Set Raum für Improvisation, aber immer auf Grundlage des Drehbuchs. Diese Spannung zwischen Planung und Spontanität ist mir wichtig. Für mich ist die Montage weniger ein technischer Prozess, sondern mehr die Fortsetzung des Drehs mit anderen Mitteln. Sentimental Fail Club ist ein Film, der durch die episodische Dramaturgie im Schnitt mehr Möglichkeiten bietet als andere Filme. Da wir in mehreren Blöcken drehen, können wir während des Drehs schon beginnen zu schneiden und uns Stück für Stück nach vorne arbeiten.
Sie erwähnen im Statement, dass Sie auch auf neue Sehgewohnheiten eingehen wollen.
Jasmin Baumgartner: Alle scrollen durch Reels. Das meiste sieht nach high content aus. Für mich persönlich gibt es immer nur einen Weg, wie etwas ausschauen kann. Das ist absolute Geschmacksache. Je crazier die Story ist, desto konsequenter muss man sich an ein visuelles Konzept halten. Sentimental Fail Club ist verliebt in alte italienische Filme, filmsprachlich sehr bei Antonioni. Superweite Einstellungen treffen sehr nahe, fragmentarische Bilder, unbewegt. Ich habe nicht den Anspruch, visuell Film neu zu erfinden, aber es braucht ein sehr konsequentes visuelles Konzept, das man verfolgt. Limitierungen sind wichtig. Gerade weil es so viel an Video-Content gibt, finde ich es jetzt noch wichtiger, auf Film zu drehen. Musikvideos werden mit KI generiert. Es ist so einfach geworden, Bewegtbild zu erzeugen, dass es heraussticht, wenn man sich den Filmrollen-Effort gibt. Technischer Aufwand, wie arge Kamerafahrten, nehmen oft die Leichtigkeit aus der Erzählung. Die Liebe zum Medium ist jetzt umso wichtiger. Ich finde nicht, dass Bilder schön sein müssen. Es muss schon ein bisschen dreckig sein, fast, dass man es riechen kann.
Interview: Karin Schiefer
Oktober 2025